Nur ein Beispiel: Der jährliche Pro-Kopf-Ausgabebetrag für Bekleidung und Schuhe ist nach GfK-Berechnungen in fünf Jahren von 550 auf 450 Euro um 20% geschrumpft. Wie auch der übrige Anteil des Einzelhandels am Konsum seit Jahren rückläufig ist, trotz Online-Wachstums. Gemessen an den außerordentlich günstigen Rahmenbedingungen für den Konsum – geringe Sparquote, günstige Preise, geringe Arbeitslosigkeit, wachsende Realeinkommen – sind auch die aktuellen Zuwächse im Einzelhandel viel zu schwach. Es geht also um die Frage, welchen Stellenwert der Einzelhandel als Wirtschaftsbereich generell einnehmen will – nicht um online oder offline.
Veränderungen als Potenzial
Ein Großteil des Verbraucherverhaltens unterliegt beharrlicher Routine, die sich auch langfristig nur kaum ändert. Hierzu zählen der Fokus auf den Preis, die Bequemlichkeit und die Verfügbarkeit. Ein kleinerer Teil unterliegt Veränderungen, die gesellschaftliche Ursachen haben. In saturierten Märkten, wie dem Einzelhandel, wird so die Grundlage für neue Bedürfnisse und neues Geschäft gelegt. Zunehmende Bedeutung hat dabei das sogenannte Involvement des Verbrauchers. Übersetzt mit Einbindung, Identifikation, Repräsentation und Stellvertretung des Kunden in Eigenschaften des Produktes, der Einkaufsstätte, des Herstellers oder des Einkaufsprozesses. Der Einkauf als nach außen sichtbares Zeichen von Weltanschauung, Lifestyle und Abgrenzung, als Teilaspekt der gewachsenen Wünsche nach Individualität und Positionierung.
Involvement – die Chance für den Ladeneinzelhandel
Trotz beziehungsweise genau wegen der Digitalisierung gewinnt der Ort bzw. der konkrete physische Standort sogar noch an Bedeutung – zumindest wenn er gut gewählt ist. Die innovative Spitze des internationalen Einzelhandels hat schon längst erkannt, dass Standorte, Lagen und Konzepte vor allem auf das steigende Bedürfnis nach immateriellem Nutzen reflektieren. Hierzu kann die Treffpunktfunktion eines Ladens oder eines Quartiers zählen, die Möglichkeit, mit dem Besuch dieser Orte und dem Kauf bestimmter Produkte soziales, politisches oder kulturelles Interesse auszudrücken oder einfach Inspiration und Wohlgefühl zu finden. Der Einkauf wird somit Teil der Lebenseinstellung. Das sichtbare Zeichen dieser Entwicklung ist die zunehmende Vermischung der Verbrauchermotive zwischen Kommerz, Kunst und Kultur.
Wirtschaftliche Notwendigkeit von Zusatznutzen
Auf der anderen Seite ergibt sich in saturierten Märkten grundsätzlich die wirtschaftliche Notwendigkeit, neue Bedürfnisse zu wecken und den Kunden zu zusätzlichen Ausgaben zu bewegen. Der immaterielle Zusatznutzen, z.B. in Form von mehr Komfort, mehr Image, mehr Aufmerksamkeit, mehr Individualität, mehr Personalisierung etc., trifft auf ein immer anspruchsvoller werdendes Publikum. Attraktive Einkaufsplätze und Ladenkonzepte sind fester Bestandteil jeder Omni-Channel-Strategie. Leider passt das Wort „attraktiv“ oftmals nicht zu den Realitäten im deutschen Ladeneinzelhandel, sodass nachlassende Kundenzufriedenheit und abnehmende Frequenzen nicht völlig überraschend sind. Dabei geben die Einstellungen der heranwachsenden Generation Grund zur Hoffnung.
In der GfK Global Youth Retail Survey von 2015 wurden junge Menschen zwischen 16 und 21 Jahren in Deutschland sowie neun weiteren Staaten nach ihren Einstellungen zum Einkaufen der Zukunft befragt, um Händlern und Herstellern Orientierungspunkte für ihre langfristige Strategie zu geben. Die Studie erlaubt also Rückschlüsse auf Shops wie auch Shopper der Zukunft. Die Ergebnisse zeigen, dass der Einkauf in Läden grundsätzlich nicht an Bedeutung verliert und das Ladenlokal unter bestimmten Voraussetzungen künftig sogar als noch kaufentscheidender als heute angesehen wird. Weitere Untersuchungen bestätigen die besondere emotionale und vertrauensbildende Komponente von Ladengeschäften als Visitenkarte eines Unternehmens und seiner Produkte.
Urban Experiences
Gemischte, dichte und frequenzstarke Umfeldstrukturen bieten beste Bedingungen für Biotope, in denen der Einzelhandel Teil einer stark nachgefragten Vielfalt verschiedener Nutzungen und Lebensbereiche ist. Hier kann dem Kunden ein Mehrwert über das bisher übliche Maß hinaus geboten werden. Damit folgt der Einzelhandel dem Trend zur „Experience Economy“, in welcher der Markt der Dinge um den Markt der Gefühle, Lebenseinstellungen und Erlebnisse erweitert wird. Das urbane Quartier wird somit zum analogen Touchpoint für Händler, mit dem er sich mit dem täglichen Leben seiner Kunden verbindet. Sowohl international als auch national ist erkennbar, wie die Nachfrage nach Läden in interessanten Lagen abseits der eigentlichen Innenstädte zunimmt. Nach Jahrzehnten der Funktions- und Nutzungstrennung ist das Angebot allerdings gering und Zielkonflikte häufen sich.
Verkürzt gesprochen droht dem Einzelhandel und seinen Synergiepartnern vor allem dann besondere Gefahr aus dem Netz, wenn die Einschränkungen des gebauten Raums Anpassungs- und Ausweichstrategien erschweren oder gar unterbinden.
Konnektivität – auch in der gebauten Umwelt
- In Analogie zum Internet muss auch der gebaute Raum eine hohe „Konnektivität“ aufweisen, um nachhaltig genutzt und bewirtschaftet werden zu können. Hierfür müssen die Quartiere folgende Voraussetzungen mitbringen:
- Nutzungsmischung, um die Erlebnisvielfalt und den ideellen Mehrwert für Bewohner und Besucher zu erhöhen;
- Nutzungsdichte, um eine kritische Masse an Frequenzen und Begegnungen zu erzeugen und die Austauschbeziehungen zwischen den Nutzungen zu fördern;
- Nutzungsoffenheit, um die laufende Anpassung des Quartiers an die wachsende Dynamik in den sozialen und wirtschaftlichen Prozessen gewährleisten zu können.
Ausblick
Umsatzumverlagerungen im Einzelhandel sind nicht monokausal mit einer Verlagerung von Offline zu Online zu begründen. Auch die Betrachtung der bisherigen Sphären Innenstadt – Grüne Wiese, Geschäftshaus – Einkaufszentrum zur Einschätzung der Zukunft der Handelsimmobilie greift zu kurz. Umverlagerungen werden sich zunehmend in alle Richtungen, zwischen den Sortimenten, zwischen den Kanälen, innerhalb der Konsumbereiche äußern. Das in seiner Dimension und Hebelwirkung größte Risiko birgt die weitere Abschmelzung der Einzelhandelsausgaben innerhalb des privaten Konsums.
Hier stellt sich die Frage der Attraktivität des Einzelhandels gegenüber anderen Konsumbranchen insgesamt. Der Wandel im Konsumentenverhalten ist dabei nur dann als Risiko einzuordnen, wenn aus den Veränderungen nicht die Potenziale abgeleitet werden. Vielmehr deuten neue, sich verstärkende Entwicklungen auf die Nachfrage der Konsumenten und Einzelhändler nach kontextualen Umgebungen, Verbindungen zu anderen Nutzungen und den Möglichkeiten größerer Flexibilität hin. Diese rufen nach neuen Immobilienprodukten und Standortprofilen. Insofern muss der Wandel als Chance gesehen werden, der nicht nur einem kurzwelligen Trend unterliegt, sondern auf eine langfristige Veränderung der Anspruchshaltung der Menschen an ihre Lebens-, Tages- und Freizeitgestaltung zurückzuführen ist.
Manuel Jahn, GfK, Mitglied im Rat der Immobilienweisen des ZIA Zentraler Immobilien Ausschuss e.V