Nicht selten wird die Digitalisierung als „digitale Revolution“ bezeichnet und wird – wie alle Revolutionen – zu tiefgreifenden Veränderungen führen. Unabhängig davon kommen auf Deutschland in den nächsten Jahrzehnten große gesellschaftliche Herausforderungen wie der demografische Wandel oder die Energiewende zu. Doch gerade bei derart komplexen Themen, die fast alle Gesellschaftsbereiche betreffen, lässt sich die Digitalisierung ideal nutzen: So könnten digitale Assistenzsysteme ältere Arbeitnehmer unterstützen oder intelligente Energiemanagement-Systeme Unternehmen beim Energiesparen helfen. Beispiele wie diese zeigen, dass die Digitalisierung nicht nur Risiken birgt, sondern auch viele Chancen bietet. Der Mensch sollte dabei aber immer im Mittelpunkt bleiben und die Digitalisierung den Menschen dienen.
In der globalen Ökonomie sind die Veränderungen durch die Digitalisierung schon heute spürbar: So verkaufen zum Beispiel Unternehmen wie AirBnb oder Uber keine Produkte mehr, sondern vermarkten digitale Dienstleistungen und vernetzen Millionen von Nutzern. Besonders die Industrie profitiert bislang aber kaum von der Sharing Economy. Die Digitalisierung könnte dies ändern und zu neuen digitalen Geschäftsmodellen für die Industrie führen. In diesem Kontext erforscht das Fraunhofer ISI (Lerch et al., 2016: Grundzüge einer industriell-kollaborativen Wirtschaftsform. In: Vierteljahresheft zur Wirtschaftsforschung, 85,2, S. 65 – 80), wie Industriebetriebe gewinnbringende Tauschbeziehungen in einer industriellkollaborativen Wirtschaft eingehen könnten. In Zukunft werden beispielsweise Industriebetriebe viele Produkte und sogar Produktionsmittel nicht mehr zwingend besitzen, sondern diese nur temporär einsetzen. Zudem werden Online-Dienste eine immer wichtigere Rolle spielen. Als Beispiele lassen sich industrielle Online-Leasingbörsen nennen, auf denen Betriebe anderen Unternehmenre Werkzeuge oder komplette Produktionsanlagen zur entgeltlichen Nutzung anbieten. Dabei basieren Innovationen nicht mehr nur auf technologischen Neuerungen. Vielmehr werden vor allem die Kundenbedürfnisse stärker ins Innovations- und Wertschöpfungsgeschehen einbezogen. Die Kundenzentrierung wird zusätzlich von der datenbasierten Entwicklung neuer Produkte und Services begünstigt: Big Data-Verfahren ermöglichen zunehmend die Analyse großer kumulierter Datenmengen und erlauben so eine genauere Abschätzung des künftigen Nutzerverhaltens und neuer Kundenbedürfnisse. Langfristig könnten Wertschöpfungsprozesse durch die digitale Vernetzung einzelner Wertschöpfungsstufen noch kleinteiliger, feingliedriger und ausdifferenzierter werden und – zum Beispiel durch den 3D-Druck – eine Reindustrialisierung begünstigen.
Aus systemischer Innovationsperspektive betrachtet, ziehen diese digitalen ökonomischen Innovationen eine Reihe von Folgewirkungen auf anderen Ebenen wie zum Beispiel der Arbeitswelt oder der Ökologie nach sich. Insbesondere bei Diskussionen zur Digitalisierung der Arbeit liegt der Fokus jedoch fast ausschließlich auf möglichen negativen Effekten. Eine im Auftrag der Vodafone Stiftung durchgeführte Studie des Fraunhofer ISI (Der digitale Wandel der Arbeitswelt und Herausforderungen für die Bildung. Eine Foresight-Studie; 2016) zeigt aber, dass die Digitalisierung auch zu einer neuen Gründungswelle führen könnte: So könnten in Zukunft deutlich mehr kleine Unternehmen mit hohem Automatisierungsgrad entstehen, die flexibel auf Marktveränderungen reagieren. Diese erhöhte Flexibilität von Unternehmen und Arbeitnehmern ist ein wesentliches Merkmal der Digitalisierung, die auch neue Arbeitsformen wie Crowdsourcing und Clickworking etablieren könnte. Arbeitnehmer arbeiten dabei in häufig wechselnden Teams und Projekten sowie oft auf freiberuflicher Basis zusammen. Diese Entwicklungen könnten Hoch- wie Geringqualifizierte betreffen und diesen neben einer guten Selbstvermarktung auch eine effiziente Selbstorganisation, Reputation und eine unbedingte Fähigkeit zur Vernetzung abverlangen. Noch zentraler wird es sein, dass Arbeitnehmer ihr Wissen laufend an Veränderungen am Arbeitsmarkt anpassen und sich auf ein „lebenslanges Lernen“ einstellen. Denn Maschinen könnten bald Standardarbeiten – und später auch kognitive Tätigkeiten – ausführen und sich künftig viele Arbeitsprofile an der Mensch-Maschine-Schnittstelle ähneln. Diese Hybridisierung von Branchen ist typisch für die Digitalisierung und hat zur Folge, dass fachunabhängige und digitale Kompetenzen deutlich wichtiger werden. Auf lange Sicht könnten sich dadurch Berufsbilder von Branchengrenzen lösen und Arbeitnehmern den beruflichen Wechsel zwischen Branchen ermöglichen. Offen bleibt aber, wie derartige Veränderungen am Arbeitsmarkt auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft wirken. Denn wenn viele Berufstätige in wechselnden Teams und an wechselnden Orten tätig sind, verliert das Arbeiten nach heutigem Muster seine soziale und identitätsstiftende Funktion.
Neben ökonomischen, sozialen und den Arbeitsmarkt betreffenden Aspekten hat die Digitalisierung aus systemischer Sicht auch Auswirkungen auf ökologische Innovationen und die Entwicklung der „Green Economy“. Schon heute bieten sich hier für Unternehmen große Marktpotenziale: Aktuell arbeiten bereits ca. 1,5 Mio. Menschen in der Umwelttechnik oder im Bereich Ressourceneffizienz – also etwa doppelt so viele wie in der gesamten Automobilindustrie. Unternehmen aus traditionell wichtigen deutschen Industriebranchen wie der Elektroindustrie oder dem Maschinenbau verfügen hier schon über viel Knowhow. Aber auch für andere Branchen und Unternehmen bietet der Weltmarkt für Umweltund Nachhaltigkeitsinnovationen große Potenziale: So könnte etwa die zunehmende Nachfrage nach Energiemanagement-Software in Großunternehmen wie auch in KMUs dazu führen, dass dieser Bereich künftig stark boomt und Softwareentwickler hiervon in Zukunft profitieren. Überhaupt sollten Unternehmen das Thema Nachhaltigkeit auch stark aus der Perspektive der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit sehen: Denn die Einsparung von Energie und insbesondere von Rohstoffen und Materialien sorgt für finanzielle Entlastung und schafft Investitionsspielräume. Und genau hier kann die Digitalisierung weiteres Potenzial entfalten, indem etwa Betriebe durch Smart Energy Management ihren Material- und Energieverbrauch durchleuchten und ganze Produktionsketten – unter Kenntnis der Stoff- und Energieströme – optimieren. Untersuchungen des Fraunhofer ISI (siehe Mitteilung Nr. 70 „Energieeffizienz im Betriebsalltag – Chancen durch Energiemanagement und Qualifikation“ aus der Erhebung „Modernisierung der Produktion“) zeigen, dass die Nutzung von Energiemanagement-Systemen in Unternehmen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat: So stieg ihr Anteil zwischen 2012 und 2015 um das Vierfache von fünf auf 21 Prozent an. Betriebe, die mehr über ihren Energieverbrauch wissen, setzen laut der Studie viel häufiger Einsparmaßnahmen wie Technologien zur Energierückgewinnung ein. Dennoch gilt es zu unterstreichen, dass ökologische Nachhaltigkeit keine natürliche Folge der Digitalisierung ist. Vielmehr ist die Digitalisierung in vielen Fällen ambivalent: Einem eventuellen Effizienzgewinn steht ein möglicher höherer Energie- und Ressourcenverbrauch gegenüber. Daher gilt es die Digitalisierung aktiv zu gestalten, um ökologische Nachhaltigkeit zu fördern.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass die „digitale Revolution“ zahlreiche Chancen bietet. Sicherlich wird sie – wie jede Revolution – starken Wandel mit sich bringen. Entsprechend legt eine Studie des Fraunhofer ISI ( Jäger et al., 2015: Analysis of the impact of robotic systems on employment in the European Union. Final report. Luxembourg: Publications Office of the European Union, VI.) nahe, dass weniger massenhafte Arbeitsplatzverluste durch Automatisierung zu befürchten sind – vielmehr dürfte sich der Zuschnitt und Inhalt der Arbeit massiv wandeln. Zudem könnte die Digitalisierung auch zu einer Welle von Unternehmensneugründungen führen und den Anteil von Selbstständigen steigern. Nicht zuletzt kann sie auch einen Beitrag zur „Green Economy“ leisten undetwa die Energieeffizienz in Deutschland verbessern – wovon letztlich die gesamte Gesellschaft profitieren würde.
„ Arbeitnehmer müssen ihr Wissen laufend an Veränderungen am Arbeitsmarkt anpassen und sich auf ein ‚lebenslanges Lernen‘ einstellen.“
Univ.-Prof. Dr. Marion A. Weissenberger-Eibl
Leiterin des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI und
Inhaberin des Lehrstuhls Innovations- und TechnologieManagement am Institut für Entrepreneurship, Technologie-Management und Innovation (ENTECHNON) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Dieser Beitrag ist Teil der Ausgabe des Handelsblatt Journals „Die vernetzte Industrie“, das Sie hier erhalten können