Der Siegeszug des Internets revolutionierte unseren Medien- und Informationskonsum qualitativ und quantitativ. Nun soll im Folgeschritt die digitale Revolution tief in der konventionellen Industrielandschaft verankert werden. Das Schlagwort Industrie 4.0 beflügelt derzeit die Phantasie vom Internet-der-Dinge, in dem alles mit allem vernetzt ist. Die Fusion der verarbeitenden Industrie mit den Bits und Bytes des virtuellen Cyber-Raumes wäre am Ende derjenige Quantensprung, von dem im Kern jegliche Science Fiction spricht: Die Automatisierung und Autonomisierung der Maschinen und ihrer Produktionsprozesse.
Die Chancen der Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft werden mittlerweile als Faktum anerkannt und breit diskutiert. Viel zu lange wurde dieser Themenkomplex jedoch verzerrt und einseitig wahrgenommen. Die aktuelle Goldgräberstimmung resultiert aus der sichtbaren Erfolgsgeschichte der Informationstechnologien. Deren Schadenspotentiale bleiben in der allgemeinen Wahrnehmung allerdings erstaunlich virtuell: Noch immer fühlen sich nur Wenige angesprochen, wenn von der Sicherheitsproblematik die Rede ist. Noch weniger sind es, die ihr Verhalten ändern. Wir müssen immer wieder auf die Gefahren hinweisen.
Den Missbrauch von Cyber-Technologien lediglich als eine „Geburtswehe“ des digitalen Zeitalters anzusehen, wäre grundlegend falsch, denn nach heutiger Einschätzung wird die ernste Gefahrenlage dauerhaft bestehen bleiben. Die Attraktivität von Cyber-Sabotage und -spionage ist schlichtweg zu groß. Die Hemmschwelle zu deren Anwendung sinkt wiederum spürbar, insofern keine physischen Grenzen überschritten, keine Gewehre abgefeuert und keine Werkstore aufgebrochen werden müssen.
Die Attraktivität von Cyber-Sabotage und -spionage ist schlichtweg zu groß.
Sicherheit hat folglich für die gesunde Entwicklung der modernen Industriegesellschaft eine Schlüsselfunktion, denn deren digitale Transformation ist eng mit dem aktuellen Zauberwort Cloud Computing verknüpft. Um Produktionsvorgänge in Fabriken zu optimieren, müssen große Datenmengen ausgewertet werden. Industrie 4.0 verspricht die Entwicklung von Digital-Tools, die beispielsweise Verschleißteile, Fehlermeldungen oder Arbeitsaufträge zielgenau an den jeweiligen Fachmann delegieren und damit die Informationsgewinnung beschleunigen.
Wenn jedoch aus Betriebs- und Produktionsgeheimnissen Datensätze werden, bedeutet dies de facto die Akkumulation von höchstsensiblen Informationen. So wie wir unsere realen Werkstoffe ganz selbstverständlich vor Diebstahl schützen, müssen wir folgerichtig auch unser „digitales Gold“ vor Spionage schützen. Wenn wir täglich feststellen, dass im rohstoffarmen Deutschland Wissen und technologischer Fortschritt die entscheidenden Ressourcen unseres Wohlstands sind, dann müssen wir auch täglich deren Sicherheit optimieren.
Dabei sind neben den großen Konzernen gerade zahlreiche deutsche mittelständische Unternehmen von Cyber-Spionage betroffen. Vielfach ist ihr gefährdeter technologischer Wissensvorsprung der entscheidende Unterschied, der sie gegenüber den internationalen Mitbewerbern zu innovativen Weltmarktführern in ihrem Segment qualifiziert.
Bei fremden Nachrichtendiensten müssen wir uns in aller Klarheit vor Augen führen, dass manche Dienste gesetzlich dazu verpflichtet sind, die technologische Entwicklung der eigenen Volkswirtschaft zu unterstützen!
Der Staat hat ein vitales Interesse an der Sicherheit für seine Wirtschaft. Dazu sollten wir alle unseren Beitrag leisten. Wir benötigen eine vertrauensvolle Kommunikation und Kooperation von Staat und Wirtschaft. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist als Nachrichtendienst einer der richtigen Ansprechpartner in Deutschland. Seit 65 Jahren gehört die Spionageabwehr zu unseren Kernkompetenzen. Das BfV ist Mitinitiator bei der im April 2016 gestarteten „Initiative Wirtschaftsschutz“*. Eine gemeinsame Internetplattform (www.wirtschaftsschutz.info) stellt allen nationalen Unternehmen ein ganzheitliches Informations- und Dialogangebot zum Thema Wirtschaftsschutz zur Verfügung und informiert über die aktuellen Strömungen, Gefahren und Abwehrmöglichkeiten im Bereich des Wirtschaftsschutzes.
Die Spionageattacken auf die deutsche Wirtschaft sind real, die Instrumente digital und die Folgen schnell verheerend, wenn nicht Vorsorge getroffen wird.
* Hintergrundinformation zur „Initiative Wirtschaftsschutz“: Neben dem BMI sind die Mitinitiatoren die Präsidenten des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft (ASW Bundesverband) und des Bundesverbands der Sicherheitswirtschaft (BDSW) sowie die Präsidenten von Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Bundeskriminalamt (BKA), Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).
Dr. Hans-Georg Maaßen
Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz
Dieser Beitrag ist Teil der aktuellen Ausgabe des Handelsblatt Journals „Cyber Security & Datenschutz“, das Sie hier erhalten können.