Zwischen Geld- und Datenflut – Versicherer vor doppelter Herausforderung

21.09.2016FinanceDigitalisierung, Versicherungswirtschaft, Zinsen

von Prof. Dr. Michael Heise

Die Versicherungswirtschaft ist eine konservative Branche. Ihr Geschäftsmodell gilt eher als stabil und beständig, denn als innovativ oder wagemutig. Umso dramatischer muten die Veränderungen an, die die Branche in jüngster Zeit vorantreibt. Angesichts der strukturellen Brüche im ökonomischen und gesellschaftlichen Umfeld bleibt ihr aber auch nichts anderes übrig als sich neu auszurichten. Dabei sind es vor allem zwei Paradigmenwechsel, die uns zwingen, neue Antworten zu finden: Null- und Negativzinsen auf der einen, die Digitalisierung auf der anderen Seite.


Die „Abschaffung der Zinsen“ ist zuvorderst für die Sparer ein traumatischer Einschnitt. Vor dem Hintergrund einer nach wie vor leicht positiven Inflationsrate ist heute mit sicheren Anlagen nicht einmal ein Werterhalt des Vermögens möglich: Wer heute Geld in Form von Bankeinlagen oder Staatsanleihen zurücklegt, wird sich morgen davon relativ weniger leisten können, insbesondere, wenn es um den Erwerb von immer teurer werdenden Immobilien oder Gesundheitsleistungen geht. Und für der Deutschen liebstes Sparvehikel, die Lebensversicherung, bedeuten Nullzinsen, dass die Garantien, die langfristige Ertrags- und Planungssicherheit bieten, bei Neuverträgen immer weiter abgesenkt werden müssen. Deutlich über null liegende Garantien sind kaum darstellbar, wenn langfristige sichere Anlagen keinen Ertrag mehr abwerfen.

Dennoch hat sich die Nachfrage nach Lebensversicherungen in den letzten Jahren weiter erhöht. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Die Lebensversicherung hat sich als wandlungsfähig erwiesen. Die heutigen Produkte haben mit den klassischen Policen der Vergangenheit, als Zinsen noch hoch waren und die Garantien in den Lebensversicherungen nicht selten mehrere Jahrzehnte umfassten, nur noch wenig gemeinsam. Neue Garantiekonzepte und eine stärkere Kapitalmarktnähe ermöglichen auch in der Nullzinswelt angemessene Erträge. Die Kunden honorieren dies, auch wenn die Erträge geringer ausfallen als in der Vergangenheit. Aber für Vermögenserhalt und -bildung gibt es derzeit kaum eine bessere – und vor allem auch sichere – Alternative als eine moderne Lebensversicherung. Gerade in unsicheren Zeiten, in denen das Vertrauen der Anleger zunehmend zwischen Wachstumsschwäche, aktionistischer Geldpolitik und politischen Spannungen aufgerieben wird, steigt das Bedürfnis nach Stabilität und Verlässlichkeit.

Digitale Vertriebswege und Big Data sind nicht als bloße Korrekturen in der Vertriebs- oder Produktarchitektur zu sehen, sondern stellen letztlich das gesamte Geschäftsmodell der Versicherer in Frage.

Für die Versicherungsunternehmen erzeugt das aktuelle Zinsumfeld allerdings erhebliche Handlungsnotwendigkeiten. Notwendig sind verstärkte Kostensenkungsmaßnahmen und eine veränderte Kapitalanlagestrategie. Auf diesem Wege können Versicherer den Druck niedriger Renditen aber nur teilweise kompensieren. Sie erhöhen seit einiger Zeit ihre Investitionen in Sachwerte wie erneuerbare Energie, Infrastruktur und Immobilien, aber auch in diesen Märkten hat die Zinspolitik der Notenbanken die Erträge sinken lassen. Hinzu kommt, dass es gerade bei sehr niedrigen Zinsen wichtig ist, langfristig und sicher zu investieren, damit die Verpflichtungen im Lebensversicherungsgeschäft durch gleichlang laufende Vermögenswerte abgedeckt sind. Differenzen zwischen der Laufzeit der Anlage und der Fälligkeit von Verpflichtungen erzeugen im Rahmenwerk von Solvency II zusätzlichen Kapitalbedarf. Unternehmen, die hohe Zinsversprechen der Vergangenheit nicht mit hinreichend langen Anlagen abgesichert haben, stehen daher unter besonderem Anpassungsdruck. Die Neuinvestitionen bringen im derzeitigen Zinsumfeld nicht die erhofften Erträge und somit müssen Überschussbeteiligungen und Ausschüttungen reduziert werden.

Klassische Schadensabwickler werden Manager der Schadensprävention

Der zweite große Wandel im Versicherungsmarkt betrifft die Digitalisierung. Digitale Vertriebswege und Big Data sind dabei nicht als bloße Korrekturen in der Vertriebs- oder Produktarchitektur zu sehen, sondern stellen letztlich das gesamte Geschäftsmodell der Versicherer in Frage. Denn diese Technologien verändern von Grund auf die Art, wie Versicherer Risiken zeichnen und mit ihren Kunden kommunizieren und Schäden abwickeln. Risikoeinschätzungen werden präziser, Produkte können leicht zerlegt und individualisiert werden. Mithilfe der neuen Technologien kann es Versicherern gelingen, nicht nur ein Partner für den Eventualfall eines Schadens zu sein, sondern in einen dauerhaften Dialog mit den Kunden zu treten und die Rolle eines Partners für „Jeden-Tag-Risiken“ zu übernehmen, in dessen Händen zum Beispiel die Überwachung der Wohnung liegt oder der Tipps und Anreize für einen gesunden Lebensstil gibt. Damit wandelte sich die Rolle der Versicherer noch stärker von klassischen Schadensabwicklern hin zu Managern der Schadensprävention.

Darüber hinaus knüpft sich an die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung in der Wirtschaft eine Reihe von versicherungstechnischen Fragen, die teils praktischer Natur – wie lassen sich z.B. Cyber-Risiken quantifizieren? –, teils juristischer Natur – wer haftet eigentlich bei Unfällen von selbstfahrenden Autos? –, und teils auch ethischer Natur sind – Sollen Fitnessdaten dazu genutzt werden, „ungesundes“ Verhalten zu sanktionieren? Einfache Antworten gibt es in der Regel nicht. Die Versicherungsbranche ist mit diesen Herausforderungen vielmehr Teil der breiten gesellschaftlichen Debatte über Wohl und Wehe der Digitalisierung, die vor allem um den verantwortungsvollen Umgang mit Daten kreist. Wo endet die Datensammelwut, wo beginnt der Schutz der Privatsphäre? Ob sich die Versprechungen der Big-Data-Revolution erfüllen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es der Politik und Gesellschaft gelingt, individuelle Freiheit und allgemeine Sicherheit, Persönlichkeitsschutz und ökonomische Interessen in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen.

Startvorteil der Versicherer bei der Digitalisierung

Welche der Herausforderungen – Nullzinsen oder Digitalisierung – die Versicherungsbranche stärker fordern wird, ist letztlich müßig zu debattieren. Dramatische Veränderungen bringen beide mit sich. Ziemlich sicher ist, dass die Versicherungsindustrie ein herausragender Partner für die Menschen bleiben wird, die fürs Alter kräftig sparen müssen – und deren Zahl wächst. Das Knowhow der Versicherer für langfristige Anlageund Absicherungskonzepte bleibt unentbehrlich, auch ihre Flexibilität bei der Auswahl von Vermögensanlageklassen. Nullzinsen stellen den Kundenvorteil von Versicherungen im Vergleich mit anderen Anlageformen nicht in Frage.

Bei der Digitalisierung ist das Wettbewerbsumfeld deutlich unübersichtlicher. Auch hier haben die Versicherer einen Startvorteil: Ihnen ist der Umgang mit großen Datenmengen vertraut, die Analyse von Big Data ist seit jeher Teil des Geschäfts. Wenn es allerdings nicht nur um die Analyse von Daten, sondern um den regelmäßigen Austausch mit den Kunden und vor allem um die Generierung von Geschäft aus Kunden- und Verhaltensdaten geht, haben derzeit die großen Digital Player wie Google, Amazon sowie Facebook und Co. die Nase vorne.  Für die Versicherungswirtschaft ist es durchaus ein Risiko, dass Konkurrenten den Kampf um die Daten der Kunden gewinnen – und in der Folge auch die Schnittstelle zum Kunden. Der Aufbruch in die digitale Welt muss also mit größtem Nachdruck angegangen werden. Beide großen Herausforderungen dulden keinen Aufschub.
 

Prof. Dr. Michael Heise Prof. Dr. Michael Heise,
Chefvolkswirt der Allianz Gruppe,
Mitglied im Aufsichtsrat der Allianz Lebensversicherung

 

Dieser Beitrag ist Teil der aktuellen Ausgabe des Handelsblatt Journals „Versicherung“, das Sie hier erhalten können: http://veranstaltungen.handelsblatt.com/journal/