Beitrag aus dem Handelsblatt Journal Restrukturierung Nov.2015

Zukunftsfähigkeit von Unternehmen in Zeiten von Digitalisierung und Industrie 4.0

Skandale bei Großkonzernen, humanitäre und ökonomische Konsequenzen der Flüchtlingskrise, geopolitische Herausforderungen sowie Sorgen um die Konjunktur in China und weiteren Schwellenländern beherrschen aktuell die Schlagzeilen in der Tages- und Wirtschaftspresse. Nur hin und wieder sorgen Berichterstattungen über selbstfahrende Autos, ob von Google oder Daimler, für ein kurzes Aufhorchen.

Zukunftsfähigkeit von Unternehmen in Zeiten von Digitalisierung und Industrie 4.0

Nicht dass Schwellenländer, Krisen oder in Verruf  geratene Verbrennungstechnologien (oder der entsprechende Einsatz von Software) keinen Einfluss auf unsere wirtschaftliche Entwicklung haben werden,aber sich abzeichnende oder bereits sichtbare technologische Veränderungen werden die Art und Weise, wie unsere Wirtschaft künftig funktioniert, in den nächsten zehn Jahren deutlich stärkerprägen.

Unabhängig davon, wie lange es dauern wird, bis neue Technologien zu breiter Anwendung gelangen werden, zeigt sich schon heute erhebliches Potenzial für gravierende wirtschaftliche Veränderungen. Die langfristigen Auswirkungen auf Beschäftigung, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeitvon Unternehmen und Regionen dürfen dabei keinesfalls unterschätzt werden. Aktuell sind selbstfahrende Autos und Drohnen zur Auslieferung von Paketen in weiten Teilen noch Zukunftsmusik. Definitiv keine Zukunftsmusik, sondern Realität ist jedoch, dass Rechenleistung und Rechengeschwindigkeit in den letzten Jahren so zugenommen haben, dass die Integration sehr unterschiedlicher Systeme in einem noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Ausmaß möglich ist.

Der heute mögliche Datenaustausch zwischen Kunden, Produzenten und Lieferanten sowie eine wesentlich gesteigerte Transparenz aller Marktteilnehmer verändert die Aufgaben und Bedeutung vieler Funktionen in ungeahntem Maße. Etablierte Geschäftsmodelle werden in Frage gestellt. Mehr noch als früher sind viele Veränderungen stark technologiegetrieben.

Ein Großhändler beispielsweise muss folgende Fragen stringent beantworten können: Wie sehen die Vertriebsmodelle der Zukunft aus? Braucht es noch den „klassischen“ Außendienstmitarbeiter in einer digitalisierten Welt? Wie differenziert sich ein Großhändler gegenüber den Vertriebsmodellen, die Hersteller selbst darzustellen in der Lage sind? Haben mehrstufige Vertriebssysteme überhaupt noch eine Zukunft? Welche Leistungsversprechen erzielen eine bestmögliche Kundenbindung? Wie muss meine Logistik optimal gestaltet werden? Stimmen meine „Make or Buy“ Prämissen noch? Wie  lassen sich Skaleneffekte bestmöglich realisieren? Wo ist regionale Kundennähe tatsächlich ein Verkaufsargument? Wie viel darf die Handelsfunktion kosten? Wie lassen sich interne Arbeitsschritte automatisieren? Weiß ich genug über meine Kunden?

Wie gehe ich mit der gefährlichsten Bedrohung um?

Diese Fragen waren auch vor 20 Jahren schon von Bedeutung, allerdings waren die Möglichkeiten der anderen Marktteilnehmer deutlich geringer. Weder den Einkäufern der Abnehmer noch den Verkäufern der Lieferanten standen systemseitig die gleichen Möglichkeiten offen.

Gegenwärtig jedoch prüfen zahlreiche Hersteller die Möglichkeit des Direktvertriebs in unbekanntem Ausmaß, Einkaufsabteilungen evaluieren Möglichkeiten des Direktbezugs möglichst vieler Teile – dies hat zur Folge, dass das Leistungsversprechen vieler Handelsunternehmen neu definiert werden muss. Hieraus resultiert die entscheidende Frage, wie genau damit umgegangen werden muss. Eine passende Analogie hierfür liefert die militärische Entscheidungsfindung und Entschlussfassung: „Wie gehe ich mit der gefährlichsten Bedrohung um“ hilft hierbei wahrscheinlich eher weiter als „was ist die wahrscheinlichste Bedrohung“.

Wie beispielsweise sieht das Leistungsportfolio des typischen Maschinenbauers der Zukunft aus? Wie weit ist die Maschinensteuerung in weitere Systeme der Unternehmenssteuerung integriert? Erschöpft sich das Leistungsspektrum in der Maschinenlieferung und anschließendem Servicegeschäft  oder organisiert der Maschinenhersteller eine Kapazitätsplattform unter all seinen Kunden und optimiert dabei die Gesamtauslastung aller seiner Partner?

Selbst Kaffeemaschinen sind teilweise bereits vernetzte Geräte: Nicht nur um Serviceintervalle optimal zu bestimmen, sondern um Kaffeehauskettenabhängig von der Kundenfrequenz und vomKäuferverhalten gezielt Verkaufs- und Marketingmaßnahmen am Point of Sale zu ermöglichen.

Digitalisierung von Geschäftsmodellen ist nicht auf e-commerce im privaten oder geschäftlichen Umfeld reduziert. Die Digitalisierung gestaltet  Geschäftsmodelle teilweise komplett um, lässt dabei einige obsolet werden und schaff t gleichzeitig neue.

Interessant hieran ist vor allem, wie Unternehmen mit diesen neuen Möglichkeiten umgehen. Viele unserer erfolgreichen Mandanten gehen das Thema Digitalisierung und Industrie 4.0 sehr proaktiv an, hinterfragen ihre Fähigkeiten, spüren Kompetenzlücken auf und suchen gezielt nach Möglichkeiten diese  zu schließen. Nicht die Absicherung der bestehenden Wettbewerbsposition, sondern die Erschließung von Wachstumschancen steht dabei im   Vordergrund. Diese proaktive Vorgehensweise ist sehr zu begrüßen; eines jedoch ist klar erkennbar: die Strategien vieler Player ähneln sich sehr und in Analogie zum Technologiehype Ende der Neunzigerjahre wird das kurzfristig erreichbare Marktvolumen zum Teil deutlich überschätzt. Nur die rasche Anpassung an relevante Gegebenheiten, auch bei verhaltener Entwicklung, helfen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Anders sieht es bei unseren Kunden aus, die sich in Restrukturierungssituationen befi nden. Die Lösung von Problemen der Vergangenheit absorbiert in der Regel schon mehr als die vorhandenen Ressourcen – die Auseinandersetzung mit dem Thema Zukunftsfähigkeit und den Chancen und Bedrohungen neuer Technologien spielt meistens keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Ressourcen finanzieller und personeller Art können oder werden nicht bereitgestellt. Die Awareness für diese Themen ist in der Regel sehr niedrig.

Traditionelle Restrukturierungsansätze greifen in Zeiten von fundamentalen Veränderungen der Geschäftsmodelle nicht oder nicht nachhaltig. Kostensenkung, Prozessoptimierungen, Standortverlagerungen und Overheadoptimierung lindern zwar die Symptome oder beheben die Probleme der Vergangenheit. Die dringend notwendigen Anpassungen an die Zukunft müssen jedoch deutlich weitergehen.

Dies stellt auch an die Berater der Krisenunternehmen erheblich höhere Anforderungen. Ohne vertiefte Kenntnis der Technologietrends im Allgemeinen, der Möglichkeiten der IT im Besonderen und deren Auswirkungen auf die Branche des Kundenunternehmens ist ein nachhaltiger Sanierungsplannicht darstellbar.

Neue Markteilnehmer mit anderen Spielregeln

Die Beurteilung, ob ein Unternehmen „4.0“ oder „Digitalisierungs-proof“ ist, ist nicht einfach, aber unabdingbar. Technologische Obsoleszenz, nicht primär nur im Sinne der angebotenen Produkte und Dienstleistungen, sondern im Sinne der Wertschöpfungs- und Vermarktungsprozesse, wird deutlich an Bedeutung gewinnen. Deshalb gilt es, dies sowohl bei der Beurteilung von Unternehmen als auch bei Finanzierungsentscheidungen verstärkt zu beachten.

Und noch ein weiteres Phänomen gewinnt an Bedeutung: Neue Marktteilnehmer mit anderen Spielregeln. Die Leute von Uber kommen nicht aus dem Taxigewerbe, die Gründer von AirBnB nicht aus der Hotelindustrie und Elon Musk als Gründer von Tesla hatte vor dem Start des Unternehmens kaum Berührungspunkte zur Automobilindustrie. Weitere solche Beispiele gäbe es zuhauf. Auch wenn der nachhaltige Erfolg dieser Unternehmen noch lange nicht ausgemacht ist, sind folgende Ausprägungen bedeutsam:

■ Innovationen werden sehr oft nicht von etablierten Marktteilnehmern geprägt, sondern von visionären Unternehmen außerhalb der etablierten Wertschöpfungssysteme.

■ Diese neuen Player streben nicht nach einem kleinen Stück des Kuchens, sondern haben neben der Marktdominanz die Etablierung von Standards zum Ziel. Die Geschichte lehrt, dass nicht immer die beste Lösung gewinnt, sondern die, die sich zuerst als Standard etablieren kann.

■ Die Venture-Capital-basierten Finanzierungsstrukturen solcher „Revolutionäre“ sind zumindest für den Anfang nicht auf nachhaltige Gewinnerzielung ausgelegt, sondern auf raschen Marktanteilsgewinn. Die fi nanziellen Möglichkeiten etablierter Anbieter und ihre Kostenstrukturen sind dieser   Wettbewerbssituation unterlegen. Ein „Financial“ Fairplay, wie es im Sport die Regel ist, existiert in der Unternehmenswelt nicht.

Zusammengefasst: Die technischen Möglichkeiten, insbesondere der IT, ermöglichen neue Geschäftsmodelle und bedrohen die bestehenden in bisher unbekannten Ausmaß und neuer Geschwindigkeit. Heute erfolgreiche (Industrie-)Unternehmen verstehen die neuen Möglichkeiten als Chance zur  Geschäftsausweitung. Selbst wenn sich diese Chancen nicht alle realisieren lassen, sichert die umfassende Auseinandersetzung mit den neuen Trends jedoch eine rechtzeitige Abwendung möglicher Gefahren.

Im Gegensatz dazu ignorieren in der Regel weniger erfolgreiche Unternehmen diese Herausforderungen, sei es aus fi nanziellen oder personellen Engpasssituationen. Restrukturierungskonzepte ohne Berücksichtigung der Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 werden nicht nachhaltig sein. Damit verbunden steigen Anforderungen an Berater und Beurteiler auf der Finanziererseite. Die Gefahr, dass bestehende Geschäftsmodelle durch branchenfremde bedroht werden, steigt beträchtlich. Die Finanzierungsreserven einiger Player schaff en diesen Neueintretenden klare Vorteile.

Autor: Stefan Huber, CEO, Partner, Helbling Business Advisors