Es gibt keinen risikolosen Zins mehr …
Das scheint eine nunmehr allgemeingültige Aussage zu sein. Typischerweise wird unter einem risikolosen Zins entweder der Geldmarktzins oder der Zins der Staatsanleihe eines Landes verstanden. Ein Geldmarktzins von nahe 0 % Prozent mag in der Tat risikolos sein. Doch selbst dieser hat mehrere Risiken, beispielsweise dass er negativ wird oder keinen Realvermögenserhalt bietet. Noch klarer ist jedoch, dass Staatsanleihen nicht mehr risikolos sind. Das zeigen die Zinsaufschläge sehr deutlich an. Selbst die Bundesanleihe hat einen Zinsaufschlag, wenn am Markt gehandelte Credit Default Swaps als Indikator herangezogen werden.
... schon gar nicht in Euroland ...
Was aber in Euroland noch hinzukommt, ist dass wir ganz besonders betroffen sind. Anders als in den USA, in Großbritannien, in der Schweiz oder gar in Japan, ist die europäische Zentralbank nicht der Lender of Last Resort. Um das besser zu verstehen, stelle man sich die amerikanische Federal Reserve vor, die nur Staatsschulden der einzelnen Bundesstaaten kaufen dürfte. Man stelle sich weiterhin vor, dass es keinen vernünftigen Bundeshaushalt gäbe mit dem etwa Schocks bei der Arbeitslosigkeit aufgefangen werden. Californien und Illinois müssten ganz allein für ihre Arbeitslosen zahlen. Mehrnoch, die amerikanische Bundesregierung hätte keinerlei Steuergewalt.
Sie wäre abhängig von Zuweisungen aus Texas oder Florida. Kurz und gut, wir haben noch nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern leben in einem Staatenbund mit einer Geldpolitik und vielen Fiskalpolitiken. Wir sind damit anfälliger für Krisen und weniger schlagkräftig in der Krisenbekämpfung. Wir haben keine den Treasuries oder Gilts vergleichbare Eurobonds, auf die Investoren sich in einer Krise zurückziehen können und auf die viele andere Anleihen bepreist werden können. Die deutsche Bundesanleihe ist nur ein unvollständiger Ersatz.
… mit verzerrten Preisen …
Hinzu kommt, dass selbst wenn die Staatsanleihe als risikoloses Asset definiert ist, der Preis nicht unbedingt ein Marktpreis im klassischen Sinne ist. Die Zentralbanken haben sich geändert. Sie greifen massiv in den Markt für Staatsanleihen ein. Sie haben nicht nur die Kurzfristzinsen auf nahe 0 % gesenkt, sie „führen“ nicht nur unsere Zinserwartungen deutlich aktiver (Forward Guidance), sondern sie kaufen Staatsanleihen im großen Stil. Sie horten diese und verkaufen sie vielleicht auch wieder. Sie verändern damit die ganze Zinskurve.Es gibt Berechnungen, nach denen die verschiedenen Nicht-Standardmaßnahmen der Fed (QE1-3) die Zinskurve um ca. 0,5 bis 1,5Prozentpunkte nach unten verschoben haben. Und wenn schon die Preise der Staatsanleihemärkte geändert wurden, passen sich dann auch die übrigen Kapitalmarktpreise an, von Banken- und Unternehmensanleihen bis hin zu Aktien und Immobilien. Das ist der Markt dann doch recht effizient.
... und zurückgehendem Angebot
Und damit das Problem nochmals gesteigert wird, muss man vermuten, dass das Angebot zurückgeht. Eine Staatsanleihe wird hoch geratet, wenn der Staat möglichst wenig Schulden hat. Es gibt ja nur noch eine Handvoll Länder mit höchster Bonität. Nun sind krisenund rezessionsbedingt die Staatsschulden angestiegen. Doch wenn die Länder ernst machen und ihre Staatshaushalte besser in Ordnung bringen, zudem noch mit konjunkturellem oder reformerischen Rücken wind, müsste das Angebot an Staatsanleihen hoher Bonität sinken. Das mag noch nicht einmal absolut der Fall sein, aber relativ schon. Wenn sich nun die Nachfrage nicht ändert, was zu vermuten ist, da sichere Assets gesucht werden und in der Regulierung richtigerweise bevorzugt werden, dann bleibt der Preis hoch und der Zinsniedrig. Damit ist nicht gemeint, dass die Zinsen nicht wieder steigen
können. Nein, nur im Vergleich zu früher sind sie strukturell niedriger.
Alle sind betroffen
Wenn das alles so ist, fällt natürlich auch die Fiktion eines risikolosen Zinses in allen theoretischen Modellen. Die Wissenschaft wird hier noch weiter arbeiten müssen, um Theorie und Praxis wieder zu vereinen. Man stelle sich die mathematisch eleganten risikobasierten Solvenzsysteme ohne risikolose Anleihen vor. Bei allen Vermögenswerten müsste das (Ausfall-)Risiko bestimmt werden. Auch die Regulierung wird umdenken müssen. In Solvency II müssten alle Vermögenswerte dann mit Eigenkapital unterlegt werden. Referenzen auf risikoarme Zinsen müssen nochmal durchdacht und nicht wie in der Zinszusatzreserve geschehen, vereinfacht mit AAA gerateten Anleihen in Euroland gleichgesetzt werden. Es gibt sie nämlich kaum noch.
Und die Kapitalanleger müssen überlegen, was sie als sichere Assets betrachten in ihren strukturellen LDI-, Core-Satellite- oder Alpha-Beta-Ansätzen. Insofern ist eine wichtige Lehre aus den Finanzkrisen: Alles ist relativ, selbst das Risikolose.
Autor. Dr. Uwe Siegmund, Chief Investment Strategist, R+V Versicherungsgruppe
Kontakt: Kathrin Dietrich-Pfaffenbach, Conference Director EUROFORUM | XING