In einem neuen, digitalisierten Marktumfeld werden die herkömmlichen monolithischen Strukturen der Großunternehmen immer weniger profi tabel sein, so unsere Prognose. Neben der Digitalisierung sind es zunehmend die Verlagerungen der ersten Verarbeitungsstufen in die Länder der Öl- und Gasförderung, die die Chemiebranche unter Handlungsdruck setzen. Denn damit verschiebt sich das Spektrum der deutschen Chemiefi rmen immer mehr hin zum „feineren“ Ende der Produktpalette.
Das heißt: Die schiere Größe ihrer kapitalintensiven Großanlagen, ausgerichtet auf Skaleneffekte und Synergien, wird den Firmen in Zukunft nur noch bedingt Wettbewerbsvorteile sichern. Im digitalisierten Marktumfeld sind es Schnelligkeit, Beweglichkeit, Innovationsgeschwindigkeit und die Fähigkeit zu Kooperation und Kollaboration, die zunehmend über den Erfolg entscheiden.
Zwar wird der Zwang zum raschen Wandel in der Chemie nicht wie anderswo von grundlegend neuen, disruptiven Technologien in der Produktion ausgehen – sie sind in dieser Industrie kaum zu erwarten. Doch schon die absehbare weitere Automatisierung der betrieblichen Abläufe durch die robotergesteuerte Prozessautomation (RPA), lernende Systeme und schließlich den vielfältigen Einsatz Künstlicher Intelligenz wird ausreichen, die Branche kräftig durchzuschütteln.
Den stärksten Einfl uss haben indessen die Veränderungen auf der Abnehmerseite. Die traditionellen Kundenbranchen – wie Autoindustrie, Bau oder Gesundheit und Ernährung – werden sich im Zuge der weiteren Digitalisierung mehr und mehr in spezialisierten Ökosystemen organisieren. Der Trend geht klar in Richtung Industriekonvergenz.
Ein Beispiel: Im chemienahen Bereich könnte sich ein Ökosystem „smart health“ entwickeln. Akteure in einem solchen Ökosystem könnten Krankenhäuser, Ärzte, Krankenversicherungen sowie Anbieter von Pharmaka, Fitnessprodukten, Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmitteln oder auch Wearables wie Fitness Tracker sein. Das gemeinsame Produktangebot an den Konsumenten: „gesundes Leben“, möglichst individuell zugeschnitten. Derartige Ökosysteme, digitalisierte Netzwerke, treten an die Stelle der traditionellen Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Herstellern und Kunden, indem sie aus dem Baukasten einzelner Produkte, Lösungen oder Dienstleistungen völlig unterschiedlicher Anbieter umfassende Pakete schnüren. Diesem Ansatz sind einzelne Firmen der Großchemie bereits teilweise gefolgt.
Im Ökosystem aber rücken die Einzelleistungen der Beteiligten, seien es Produkte oder Dienstleistungen, eher in den Hintergrund. An ihre Stelle treten Kooperation, Kollaboration und Ko-Innovation. Vom Glied in einer Wertschöpfungskette wird der einzelne Betrieb zum Mitglied eines komplexen Netzwerks. Eine nicht zu unterschätzende Folge: In dieser ungewohnten Umgebung brauchen die Akteure neue Management-Ansätze, die auf eine solche Komplexität zugeschnitten sind.
Diese Entwicklung ist in praktisch allen Wirtschaftsbereichen denkbar, etwa mit Ökosystemen für smarte Fahrzeuge, smarte Logistik oder smartes Bauen. In allen Fällen wird der einzelne Hersteller von Produkten oder Dienstleistungen zum Zulieferer der Ökosysteme.
Der Erfolg hängt nicht mehr von Kundenbeziehungen, sondern von dem Nutzen für jene Ökosysteme ab, zu denen Zugang gefunden wird. Im Gegensatz zu reinen Transaktions-Plattformen hängt die Wettbewerbsfähigkeit hier nicht mehr von Preisen ab. Andere Kriterien wie Innovationsfähigkeit, Service und Zuverlässigkeit sind ebenso von Belang. Das klassische Chemieunternehmen wird weiterhin seine Produkte dem Kunden anbieten. Der ist nun allerdings ein Ökosystem, dessen Mitglied auch das Unternehmen ist. Als möglichst unabhängiges Bindeglied zwischen Anbietern und Ökosystemen werden Plattformen fungieren, die sowohl die Angebotsprozesse als auch die Transaktionen beider Seiten abwickeln. Die Hauptrolle einer Plattform wird darin bestehen, ein Gleichgewicht zwischen den Akteuren beider Seiten zu halten.
Was bedeutet diese Entwicklung für den Chemieriesen traditioneller Prägung? Erstens: Er muss sich gänzlich neu aufstellen. Um eine neue Struktur zu definieren, gilt es festzulegen, welche Teile des Unternehmens als „klassischer“ Block fortbestehen sollen und welche anderen sich vereinzeln lassen, um als Spieler in bestimmten Ökosystemen mitzuwirken. Zweitens: Er muss seine Rolle in jedem einzelnen Ökosystem definieren. Denn: Aktuelle Anpassungen wie die Digitalisierung der Supply Chain, die vertikale und horizontale Rundum-Integration, große Übernahmen und der Downstream-Trend zur Spezialchemie dienen lediglich der kurzfristigen Korrektur bestehender Strukturen. Sie folgen dem Motto „doing things right“. Angesagt ist aber schon heute, „to do the right things“.
Dr.-Ing. Frank Jenner
Managing Partner
Global Chemical Industry Leader
EY
Dieser Beitrag ist Teil der aktuellen Ausgabe des Handelsblatt Journals „Die Zukunft der Industrie“,das Sie hier erhalten können