Szenarien zukünftiger urbaner Mobilität

07.03.2017Auto & ProduktionFuture Mobility, Urban Mobility, MobilitätsinnovationVom Verschwinden und Comeback des Autos

von Enno Däneke

Die Städte sind und bleiben die globalen Zentren für Mobilitätsinnovationen. Bereits heute leben mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten. Städte sind die Lebens- und Arbeitsräume der Zukunft. Ihre wichtigsten Merkmale sind: Komplexität, Dynamik, Wandel und Wachstum. Die weiter fortschreitende Urbanisierung erfordert aber auch eine massive Verbesserung der urbanen Verkehrssysteme.

Vor allem die Metropolen und Millionenstädte stehen vor der Aufgabe, dieses rasante Wachstum nachhaltig zu gestalten, um die Gefahren durch Umweltverschmutzung und Gesundheitsbelastungen zu minimieren.

Informations- und Kommunikationstechnologien bieten hier ein erhebliches Potenzial zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Sicherheit der bestehenden Infrastruktur. Gleichzeitig werden Infrastrukturen neu gedacht und genutzt. Intelligente Mobilitätskonzepte gewinnen im Kontext zunehmend vernetzter 'Smart Cities' an Bedeutung.

Je nachdem wie schnell Städte die Nutzung umweltfreundlicher Verkehrstechniken vorantreiben und in welchem Ausmaß sie Konnektivität und Automatisierung nutzen, um ihren Verkehr intelligent zu steuern, lassen sie sich typologisch vier Szenarien zuordnen. Abhängig von Wachstumsgeschwindigkeit, regionalen Bedingungen und finanziellen Mitteln werden die Entwicklungen sehr unterschiedlich verlaufen. Die folgenden Szenarien sind daher weniger als ein 'Entweder-oder' als ein 'Sowohl-als-auch' zu verstehen.

Szenario I: Verkehrs- und emissionsbelastete Städte
Verliert das eigene Auto, entgegen einschlägiger Prognosen, nicht an Bedeutung als Status-Symbol, bleibt der Individualverkehr die tragende Säule urbaner Mobilität. Gleichzeitig sind dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs vielerorts enge Grenzen gesetzt. Grund sind Platzmangel und fehlende Investitionsmittel. Den Regierungen gelingt es nicht, durch Gesetze Impulse für die Förderung der Elektromobilität zu setzen, so dass der Verbrennungsmotor als Antrieb dominiert.

Städte, die diesen Pfad einschlagen, droht der Verkehrskollaps. Sie stehen vor der Herausforderung, dass der Individualverkehr schneller wächst als die Verkehrsinfrastruktur, die häufig nicht finanzierbar und aufgrund des dynamischen Wachstums der Städte nicht nachhaltig planbar ist. In diesen Megacities erreichen die Stickstoffoxid- und Feinstaubwerte immer wieder neue Rekordwerte. Der Smog belastet die Umwelt und die Gesundheit der Bewohner.

Szenario II: Umweltfreundliche Individualmobilität
Städte dieses Szenarios sind gekennzeichnet durch eine klima- und umweltfreundliche Mobilität. Die Energiewende im Mobilitätssektor ist politisch gewollt. Es werden nur noch Elektroautos zugelassen, da sie lokal keine Emissionen verursachen. Eine ausreichende Ladeinfrastruktur in den Städten wird etabliert. Das Fahrzeugdesign wird stadtgerechter. Es zeichnet sich ein Trend in Richtung Mikromobilität und Typenvielfalt ab. Zwei-, drei- und leichte vierrädrige Modelle prägen das Stadtbild, entlasten den Verkehr und entspannen die Parkraumsituation. Die Mehrzahl der Menschen setzt aber weiter auf ein eigenes Fahrzeug, vor allem um flexibel zu sein und jederzeit darauf zugreifen zu können.

Szenario III: Smarte multi- und intermodale Mobilität
Viele Städte werden sich mit gesamtheitlichen Entwicklungskonzepten zu 'Smart Cities' transformieren. Diese Städte zeichnet ein hoher Grad sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit aus. Durch die umfassende Vernetzung aller Lebensbereiche (Wohnen, Mobilität, Logistik, Handel, Energie etc.) können unterschiedliche Infrastrukturebenen miteinander synchronisiert und Synergieeffekte genutzt werden. Mobilitätsmuster können in Echtzeit ausgewertet und Verkehrsflüsse unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Daten aus unterschiedlichsten Quellen optimiert werden. Staus gehören weitestgehend der Vergangenheit an. Mobilität ist energieeffizient und emissionsarm. Der Individualverkehr mit dem eigenen Auto geht in den diesen Städten deutlich zurück. Ein breites ÖPNV-Angebot wird ergänzt durch zahlreiche Sharing-Konzepte und innovative Mobilitätsdienstleistungen privater Anbieter. Es existieren einfache und transparente Preismodelle, die alle Mobilitätsformen integrieren. Virtuelle Mobilitätsassistenten schlagen unter Berücksichtigung aller Informationen die jeweils beste Reise-Option vor, übergreifend über alle Verkehrsträger.

In der Mobility-As-a-Service-Welt des Jahres 2030 erwartet der Kunde auf ihn individuell zugeschnittene Lösungen.

Szenario IV: Autonome Elektro-Fahrzeugflotten
Die Mobilität in diesen Vorreiter-Städten wird dominiert durch Flotten autonom fahrender Elektroautos. Die Stadtbewohner profitieren von einer schnellen und bequemen Tür-zu-Tür-Mobilität. Vollautomatisch werden sie von autonom fahrenden Pods abgeholt und direkt an ihr Ziel gefahren. Die Systeme bieten höchste Verkehrssicherheit. Die Fahrten können allein oder – dann günstiger – im Verbund mit anderen gebucht werden. Die Betreibermodelle variieren. In einigen Städten sind sie rein öffentlich und ergänzen zunächst den klassischen ÖPNV, bevor sie ihn ganz ablösen. In anderen Städten, insbesondere den Megacities, überwiegen private Anbieter. Meist dominieren einer oder einige wenige Unternehmen den Markt einer Stadt. Der motorisierte Individualverkehr sowie – nach einer kurzen Blütezeit – smarte intermodale Verkehrslösungen werden in diesen Städten an Bedeutung verlieren. Weiterhin gut ausgelastet bleiben lediglich die großen Metro-Systeme in den Metropolen, die in Stoßzeiten die notwendige Kapazität bereitstellen.

Was bedeuten die Szenarien für die heutigen Anbieter?
Mobilitätsanbieter müssen sich zukünftig grundsätzlich als 'integriert' verstehen – als Teil einer umfassenden am Kundenutzen orientierten On- Demand-Mobilität. In der Mobility-As-a-Service- Welt des Jahres 2030 erwartet der Kunde auf ihn individuell zugeschnittene Lösungen. Die daran beteiligten Anbieter interessieren ihn höchstens sekundär. Dies wird Unternehmen auch vor Herausforderungen hinsichtlich ihrer Positionierung und Markenführung stellen.

Der öffentliche Personennahverkehr steht noch vor einer weiteren Herausforderung: Er wird nach einem weiteren Ausbau in den nächsten zehn Jahren mit der Verbreitung autonom fahrender Fahrzeuge langfristig in seiner Existenz bedroht. Ironischerweise wird er durch eine neue Generation des Verkehrsmittels substituiert, das er selbst ersetzen sollte.


Vor allem Verkehrsbetriebe und Unternehmen der Automobilindustrie müssen sich die Frage stellen, welche Rolle das Auto im Stadtverkehr der Zukunft spielen wird. Intermodale Konzepte, die heute einer Vielzahl unterschiedlicher Anbieter erhebliche Wachstumspotenziale in Aussicht stellen und die Bedeutung des Autos relativieren, sind mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit nur eine Brücke zu einer durch Flotten autonom fahrender Elektrofahrzeuge dominierten urbanen Verkehrsinfrastruktur.

Jedes Unternehmen, das heute für und von Mobilität lebt, braucht eine klare strategische Ausrichtung, die die zukünftigen Entwicklungen aufgreift. Dann wird es eine glänzende Zukunft haben.

 

Enno Däneke

Enno Däneke
ist geschäftsleitender Partner bei der FutureManagementGroup AG. Als Experte für die Zukunft von Mobilität und Logistik unterstützt er Unternehmen bei der Entwicklung ihrer Zukunftsstrategien.

 

 

Dieser Beitrag ist Teil der aktuellen Ausgabe Handelsblatt Journals „Die Zukunft der Automobilindustrie“, das Sie hier