Insbesondere in der Sparte Haftpflicht dauert es bis zur endgültigen Abwicklung eines Schadens oft Jahrzehnte. Umso wichtiger ist es für Rückversicherer, Rechts- und Schadenentwicklungen aufmerksam zu beobachten. Dies dient zum einen der Entwicklung aktuell bedarfsgerechter und auskömmlicher Tarife, zum anderen der Erstellung von Prognosen für die Zukunft.
So unterzieht die Swiss Re das europäische Rechtsumfeld einem konstanten Monitoring. Im Rahmen dessen sind in den vergangenen beiden Jahren Entwicklungen in den Bereichen Sammelklagen, Umwelthaftpflicht und Cyber Liability besonders hervorzuheben.
Nicht nur Tulpen aus Amsterdam
Sammelklagen gewinnen in Europa immer mehr an Bedeutung. Nachdem entsprechende Möglichkeiten in der überwiegenden Anzahl der europäischen
Länder bereits in unterschiedlichem Umfang eingeführt wurden, verabschiedete das Europäische Parlament im Februar 2012 eine Resolution zu
kollektiven Klagerechten. In dieser werden die Rahmenbedingungen festgeschrieben, in der sich solche Regelungen zukünftig bewegen sollen.
Unter anderem beinhaltet die Resolution die Aussage, dass Auswüchse, wie sie in den USA in Zusammenhang mit Class Actions beobachtet wurden, unbedingt vermieden werden müssen. Das mag für die produzierende Industrie und die Versicherungswirtschaft beruhigend klingen. Jedoch wird die Entwicklung wegen der möglichen breiten Wirkung von Sammelklagen insgesamt eher skeptisch betrachtet.
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Im Fokus kollektiver Klagen stehen eindeutig Finanzdienstleister, insbesondere Banken, was in Hinblick auf die zahlreichen Skandale der jüngeren Vergangenheit wenig überraschen mag. Aus geographischer Sicht sind vermehrte Klageaktivitäten in Italien, Polen, Frankreich, Österreich und insbesondere den Niederlanden zu beobachten. Häufig werden Prozesse von Verbraucherschutzorganisationen geführt.
Während in Deutschland Sammelklageverfahren in nur sehr beschränktem Umfang zulässig sind, was den Rechtsstandort diesbezüglich uninteressant erscheinen lässt, machen es unsere holländischen Nachbarn besser: Das dortige Gesetz zur Verfolgung von Massenklagen erstreckt sich auf alle Verbraucherangelegenheiten und strebt bei begründeten Klagen nach pragmatischen Lösungen, im Sinne der Erzielung von Vergleichen zwischen den Parteien. Holland ist derzeit das bevorzugte gerichtliche Forum in Europa in Bezug auf Sammelklagen.
Italien verzeichnete im Jahr 2010 die erste gegen die Tabakindustrie gerichtete Sammelklage auf kontinentaleuropäischem Boden. Der Fall wurde im Frühjahr 2011 von einem römischen Zivilgericht jedoch abschlägig beschieden. Die Begründung des Kollegiums ist klar und einleuchtend: Zum einen wissen Raucher um die Gefahren des Genusses und willigen insofern in das Risiko ein. Zum anderen seien Gesundheitsschäden grundsätzlich nicht im Wege einer Sammelklage verfolgbar; jeder Einzelfall müsse einer individuellen Betrachtung unterzogen werden. Aus Sicht des produzierenden Gewerbes – nicht nur im Segment Tabak – ein sicherlich positiv zu bewertendes Urteil.
Dass die Frage, ob Gesundheitsschäden im Wege einer Sammelklage verfolgbar sind, auch anders entschieden werden kann, zeigt ein am Londoner High Court seit Herbst 2011 anhängiger Fall: Arbeiter des südafrikanischen Minenbetreibers Anglo American klagen in England gemeinschaftlich wegen erlittener Körperschäden infolge von Staublunge. Die Klage wurde angenommen, unter anderem deswegen, weil die beklagte Firma in London ihre weltweite Zentrale hat.
Die Beispiele zeigen, dass der Erfolg einer Sammelklage auch davon abhängig sein kann, in welchem Land man diese verfolgt. Trotz Bemühungen der EU wird ein pan-europäisches, einheitliches Konzept bei Sammelklagen über lange Zeit nicht verfügbar sein. Dies führt in Folge weiterhin zu unterschiedlichen Rechtsstrukturen in der Europäischen Union und dazu, dass einzelstaatliche Konzepte unter gewissen prozessualen Vorbedingungen miteinander konkurrieren. Swiss Re sieht das Einbringen von Sammelklagen in Verbindung mit der Wahl eines möglichst klägerfreundlichen gerichtlichen Forums als risikoerhöhendes Szenario für die Versicherungsbranche.
In Zusammenhang mit Gesundheitsschäden verdient eine in Italien geführte Einzelklage der besonderen Hervorhebung: Erstmalig in der Welt erkannte ein Zivilgericht im Oktober 2012 auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Betrieb eines Mobiltelefons und einem von einem Nutzer erlittenen
Gesundheitsschaden. Der Kläger, ein 60-jähriger Kaufmann, erkrankte an einem Gehirntumor. Beklagte war indes weder ein Netzbetreiber noch ein
Hersteller, sondern die italienische Staatliche Versicherung gegen Arbeitsunfälle (INAIL), also der Sozialversicherungsträger. Das Urteil könnte Signalwirkung haben; Ausstrahlungen auf die Betreiber- und Produkthaftpflicht nicht ausgeschlossen.
Im Bereich Umwelthaftpflicht waren in Europa in den vergangenen beiden Jahren erfreulicherweise keine signifikanten Ereignisse zu verzeichnen. Erwähnenswert ist allenfalls der Bruch eines Giftschlammauffangbeckens einer Aluminiumfabrik im ungarischen Veszprem im Oktober 2010, der jedoch nicht unter den Schutzmantel der EU-Umwelthaftpflichtdirektive fiel, da diese zum Zeitpunkt des Unfalls in Ungarn noch nicht vollständig umgesetzt war. Wie ein Worst-Case-Szenario ausfallen kann, führte der Deepwater Horizon Ölunfall im Golf von Mexico deutlich vor Augen.
Sorgen bereitet in Europa derzeit das Thema „Fracking“. Während der Begriff vor zwei Jahren allenfalls Experten geläufig war, ist er heute in aller Munde,
was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, das die Medien dem Thema viel Beachtung schenken.
Hydrofracking als Key Environmental Risk
Hydraulic Fracturing, oder kurz „Fracking“, ist die Erzeugung von künstlichen Rissen in Gesteinsformationen durch unter hydraulischem Druck erfolgte
Bohrungen. Erreicht wird dadurch eine vorher nicht gegebene Durchlässigkeit für Erdgas, was Fördermengen erheblich steigert bzw. Explorationen wirtschaftlich erst sinnvoll macht. Kritisch an der Methode sind die sog. Stützmittelflüssigkeiten, die in das Gestein gepresst werden, um es aufzubrechen. Zur Verwendung kommen u. a. Säuren, Gele, Schäume, Korrosionsschutzmittel sowie Reibungsminderer. In diesen Additiven finden sich Substanzen wiez. B. Borsäure, Dimethylformamid (DMF), Acrylamide und Benzol. Alles nichts, was man in der Umwelt haben möchte. Unzweifelhaft sind solche Stoffe geeignet, mögliche Kontaminationen von Grund- und Oberflächenwasser oder sonstige Umweltschäden herbeizuführen.
Während Umweltbehörden der Methode meist kritisch gegenüberstehen, findet sie in den Wirtschaftsministerien europäischer Länder häufig Unterstützung. Die unterschiedlichen Interessenlagen werden deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass z. B. in England durch den Einsatz von Fracking-Technologie die dortigen fossilen Energiereserven auf einen Zeithorizont von 70 Jahren verdoppelt werden können. Auch in Deutschland kommt die Methodik zur Anwendung, vorerst jedoch nur bei Probebohrungen in Niedersachsen. Bundesumweltminister Peter Altmaier veröffentlichte im September 2012 ein von seinem Ministerium in Auftrag gegebenes Gutachten, welches aufgrund des Chemikalieneinsatzes von großtechnischem Einsatz abrät. Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen Fracking eine klare Absage erteilt – zumindest vorläufig, vor Abschluss weiterer Forschungsarbeiten.
Europa bietet bzgl. des Einsatzes der Technologie ein diffuses Bild: Während Polen und England wohlwollend Bohrgenehmigungen erteilen, ist Fracking in Frankreich und Bulgarien untersagt. Österreich betreibt zwar ein Pilotprojekt, verbot jedoch den Einsatz jeglicher chemischer Stoffe.Im Ergebnis steht in Europa der Einsatz von Fracking-Technik unter kritischer Beobachtung. Die Versicherungswirtschaft betritt Neuland: Da alle Vorhaben in Hinblick auf das Umweltexposure versichert sind, stehen die Risiken bereits in den Büchern. Es bleibt zu hoffen, dass negative Erfahrungen ausbleiben. Quod sit demonstrandum!
Angriffe aus dem Netz
Das Weltwirtschaftsforum in Davos bewertete 2012 Cybersecurity als eines der wichtigsten 5 Top Risiken in der Welt. Der Einschätzung dürfte von Seiten der Assekuranz zugestimmt werden. Das Risikoumfeld hat sich im Beobachtungszeitraum deutlich verschlechtert: Attacken aus dem Netz sind zu einem mehr oder weniger alltäglichen Phänomen geworden.
Die öffentliche Wahrnehmung wird sich nochmals verstärken, sollte der erst kürzlich im Februar 2013 von der EU-Kommission unterbreitete Vorschlag für
eine europäische Cybersicherheits-Richtline umgesetzt werden. Unter anderem sieht der Entwurf eine einheitliche Meldepflicht für Unternehmen bei
Cyberattacken und Sicherheitspannen vor, wie sie in den USA bereits seit einiger Zeit besteht. Parallel zur EU-Kommission arbeitet auch die Bundesregierung an einem neuen IT-Gesetz, welches auf die Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme abzielt und sich an Betreiber kritischer Infrastrukturen richtet. Der erst jüngst, im März dieses Jahres vorgelegte Referentenentwurf beinhaltet gleichso eine Meldepflicht für IT-Sicherheitsvorfälle.
Als primär exponierte Risiken präsentieren sich die Finanzwirtschaft, das Gesundheitswesen, Betriebe der Großindustrie, Energiebetreiber und – leider
auch – das Militär. Besorgniserregend sind insbesondere Sabotageattacken, die sich gegen Infrastrukturen richten, also etwa Energieversorger oder Atomkraftwerke, wie das der sog. Stuxnet-Virus deutlich unter Beweis gestellt hat.
Risikotreiber in Zusammenhang mit IT-Sicherheit sind die weltweite Datenvernetzung („Hyperconnected world“), der Gebrauch mobiler Computer zur Datenspeicherung und zum Datenaustausch sowie Cloud Computing und das Outsourcing von Services. Diese werden begleitet von der weltweiten Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Umgang mit diesen Risiken stellt eine der größten risikotechnischen Herausforderungen für die Versicherungswirtschaft dar.
Autor. Dr. Thomas Fausten, Director, Claims, Swiss Re Europe S.A.
Kontakt: Stefanie Speyrer, Konferenz-Managerin Versicherungen, EUROFORUM | Stefanie Speyrer auf XING
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