von Paul Corcoran
In der Debatte um das Nord Stream 2-Projekt zeigt sich, dass politische Wortführer die Evolution des europäischen Gasmarkts verpasst haben und der Zeit hinterher hinken. Die unsichtbaren Moleküle in den Leitungen fließen inzwischen nach neuen Regeln – denen des europäischen Binnenmarkts. Neue Gasquellen und Transportwege sind erschlossen, der Markt ist diversifiziert. Angebot und Nachfrage bestimmen, welches Gas am Markt einen Abnehmer findet und Transportkosten entscheiden darüber, welchen Weg es zum Verbraucher nimmt. Abhängigkeiten sind ein Thema von gestern. Wo Gas-Transporteure einen Engpass sehen, werden nach Marktregeln bedarfsgerecht neue Verknüpfungen ermöglicht. Wo der Markt es nicht hergibt, springen die Milliarden-Ausbauprogramme der EU ein, die über Fördermittel bereits LNG-Häfen in Osteuropa und zahlreiche Möglichkeiten für den Gastransport von West nach Ost geschaffen haben.
Im Versorgungs-Notfall greift ein Solidaritätsmechanismus. Die Europäische Kommission kann mit Stolz sagen, dass bereits in 22 der 28 Mitgliedsstaaten die Versorgungssicherheit entscheidend verbessert wurde. In wenigen Jahren haben auch die restlichen Länder verschiedene Optionen, so lang der beschlossene Ausbau von Anbindungsleitungen und Interkonnektoren in der EU wie geplant fortgesetzt wird und alle Länder die geltenden Marktregeln auch umsetzen. Hier können sich die europäischen Staaten höchstens selbst im Weg stehen.
Angebot und Nachfrage bestimmen, welches Gas am Markt einen Abnehmer findet.
Da verwundert es doch stark, dass im Zusammenhang mit Nord Stream 2 seitens der EU-Bürokratie wieder so getan wird, als wäre der Binnenmarkt in den 90ern steckengeblieben. Weil sich im aktuellen, dritten Binnenmarktregularium nichts findet, mit dem man aus politischen Gründen Pipelines von außerhalb des EU-Gasmarkts regulieren kann, ersucht die Kommission jetzt beim Rat um ein Verhandlungsmandat. Damit wolle man einen „rechtsfreien Raum“ beseitigen, heißt es in Brüssel. Dabei kommt im Fall von Pipelines wie Nord Stream 2 bereits eine Vielzahl von internationalen, europäischen und nationalstaatlichen Rechtsvorschriften zum Tragen. Rechtsgutachten der Kommission belegen klar: das dritte Binnenmarktpaket fi ndet keine Anwendung und von einem Rechtsvakuum kann keine Rede sein.
Ein weiterer Punkt in der Brüsseler Debatte ist fadenscheinig: Nord Stream 2 verzerre den Markt und würde der Versorgungssicherheit einzelner Staaten schaden. In der Logik des Binnenmarktes ist dieses Argument nicht zu verstehen, denn zusätzliche Importmöglichkeiten, zumal wie im Fall von Nord Stream 2 mit kürzester Verbindung zu riesigen, neu erschlossenen Feldern auf der Jamal-Halbinsel, sichern die hohe Verfügbarkeit und bieten im integrierten Marktgefüge allen einen Vorteil. So zeigt auch eine im Herbst erscheinende Studie des energiewissenschaftlichen Instituts der Universität Köln, dass Nord Stream 2 europaweit positive Eff ekte auf den Gaspreis haben wird.
Europa sollte etwas gelassener mit den neuen Projekten am Energiemarkt umgehen und sich seiner Chancen stärker bewusst werden
Neben Pipeline-Gas kann ergänzend Flüssiggas importiert werden. Über 20 Importhäfen bestehen bereits in der EU, weitere sind in Planung. Sie könnten fast die Hälfte des Importbedarfs aufnehmen, sind aber im Mittel nur zu 25% ausgelastet. Denn ob es sich lohnt, die Tankschiff e aus Katar, Australien oder den USA nach Europa zu lenken, entscheidet am Ende der Preis. Der globale LNG-Markt wird künftig anziehen, prognostiziert sind ein weltweiter Zusatzbedarf von rund 1.000 Mrd. m3 in den nächsten 30 Jahren, 25% mehr als heute. Für die in den nächsten Jahren auf den Markt gelangenden
Zusatzmengen an LNG wird sich mittelfristig immer ein Abnehmer fi nden – meistens in Asien, wo sich der Gasbedarf verdoppelt. Daher ist es etwas verwunderlich, wenn einzelne Regierungen von Produzentenländern mittels politischer Manöver versuchen, ihr Produkt auf den europäischen Markt zu drängen. LNG braucht in Europa keinen Welpenschutz sondern Vertrauen in den funktionierenden Markt. Zahlt der Käufer aus Korea oder Japan mehr, wird ein europäischer Importeur die Schiff sladung schlichtweg dorthin umleiten. Solange in der EU genug Pipelinegas verfügbar ist, kein Problem.
Der positive Effekt auf europäische Gaspreise durch zusätzliche Pipelines wird umso größer, desto stärker der Nachfrage-Sog aus Asien die europäische Versorgung mit Flüssiggas verteuern würde. Zusammen mit der weiteren Integration des europäischen Gasmarkts trägt Nord Stream 2 dazu bei, Europa von Gaspreis-Spitzen am globalen Markt abzuschirmen– die günstigeren Energiepreise schützen somit Industrie und Arbeitsplätze. Und nicht nur das: mit mehr Vertrauen in den selbst geschaff enen Binnenmarkt für Erdgas kann die EU zwei weitere Ziele erreichen – eine sichere und nachhaltige Energieversorgung die zur Erreichung der Klimaziele beiträgt.
Paul Corcoran
Chief Financial Officer
Nord Stream 2 AG
Dieser Beitrag ist Teil der aktuellen Ausgabe des Handelsblatt Journals „Energiewirtschaft… smarter denn je“, das Sie hier erhalten können