Die Analyse von Kaufentscheidungsprozessen stellt ein weithin etabliertes Forschungsfeld im Bereich der Konsumentenverhaltensforschung dar. So klassifiziert die bestehende Literatur Kaufentscheidungen von Lebensmitteln (LM) stets als sogenannte habitualisierte – gewohnheitsmäßige – „low-involvement“ Entscheidungen, die schnell getroffen werden und sich durch einen geringen kognitivem Anteil auszeichnen (Balderjahn and Scholderer, 2007). Kaufentscheidungen von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) sind im Gegensatz zu LM weniger intensiv untersucht worden.
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Vor diesem Hintergrund beleuchtet der vorliegende Beitrag die Kernfrage, inwiefern NEM ebenfalls als „low-involvement“ Produkte gelten und welche Konsequenzen sich daraus für die Wahrnehmung einer oftmals komplexen Gesundheitsaussage ergeben könnten. Dazu soll im Folgenden zunächst das Konstrukt des Involvements erläutert werden, um darauf aufbauend den Kaufentscheidungsprozess von NEM im Rahmen einer empirischen Untersuchung von 350 deutschen Konsumenten näher zu beleuchten.
Im Anschluss an die Darstellung der Studienergebnisse zum Kaufentscheidungsprozess soll auf die Frage eingegangen werden, inwiefern das Wissen über Inhaltsstoffe eine Voraussetzung dafür ist, dass der Konsument im Rahmen eines kognitiven Kaufentscheidungsprozesses einen persönlichen Gesundheitsnutzen wahrnehmen und diesem vertrauen kann.
Kaufentscheidungsprozesse von Konsumenten
Das Konstrukt Involvement ist eine Schlüsselvariable für die Erklärung von Kaufentscheidungsprozessen. Dabei ist Involvement definiert als der Aktivierungsgrad zur objektgerichteten Informationssuche, -aufnahme, -verarbeitung und -speicherung (Kroeber-Riel et al., 2009). Das bedeutet, dass bei sogenannten „low-involvement“ Produkten, wie z.B. LM des täglichen Bedarfs, ein kurzer, habitualisierter Kaufentscheidungsprozess vorliegt. Komplexe Botschaften auf der Verpackung können dabei kaum wahrgenommen werden. Betrachtet man dagegen NEM, welche meist in Pillen- oder Pulverform für einen speziellen Gesundheitsnutzen vermarktet werden, so ist es fraglich, ob diese – trotz ihrer juristischen Zugehörigkeit zur Kategorie der LM – aufmerksamer, sorgfältiger und langsamer als ein klassisches LM ausgewählt und gekauft werden. Diese Frage stellt sich umso mehr, dabei freiverkäuflichen Arzneimitteln ein kognitiver Kaufentscheidungsprozess vorzuliegen scheint.
Evidenz dafür liefert eine Studie von Ratchford (1987), der zeigen konnte, dass sich Gesundheitsprodukte (z.B. Kopfschmerztabletten) allgemein durch ein höheres Kaufentscheidungsinvolvement auszeichnen. Es stellt sich also die Frage, wie NEM in Bezug auf das Involvement eingestuft werden können. Warum ist diese Frage für die Produktpositionierung und Kommunikation von Gesundheitsaussagen wichtig? Health Claims basieren meist auf sehr komplexen Botschaften wie z.B. der Art 13 (5) Claim „wasserlösliches Tomatenkonzentrat fördert die normale Blutplättchenaggregation und trägt zu einem gesunden Blutfluss bei“. Diese können (wenn überhaupt) nur mit einer großen Aufmerksamkeit und hohem kognitiven Anteil an der Kaufentscheidung vomKonsumenten wahrgenommen und verstanden werden.
Empirische Untersuchung zum Involvement bei NEM
Im September 2012 fanden zum Vergleich des Involvements bei NEM und LM Telefoninterviews mit 350 deutschen Konsumenten statt. Ebenfalls wurden Einflussfaktoren auf das Involvement, z.B. der Gesundheitsstatus und die Gesundheitsmotivation untersucht. Zur Messung des latenten (nicht direkt messbaren) Konstrukts Involvement wurden etablierte Messskalen, die Zustimmungsstatements enthalten, verwendet (siehe z.B. (Mittal, 1995, Ratchford, 1987, Kapferer and Laurent, 1985)).
Die vorliegende Studie deutet darauf hin, dassdas Involvement bei NEM höher ist als bei LM. Damit kann davon ausgegangen werden, dass Nutzer von NEM diese im Vergleich zu klassischen LM sorgfältiger, aufmerksamer und mit einer höheren kognitiven Beteiligung einkaufen. Den größten Einfluss auf das Involvement hatte dabei die Gesundheitsmotivation. Das bedeutet, je höher die Gesundheitsmotivation der Konsumenten war, desto höher war auch das Involvement bei LM und NEM. Dabei umfasst das latente Konstrukt der Gesundheitsmotivation Faktoren wie z.B. die Präventionsneigung oder die Besorgnis gegenüber Krankheiten (basierend auf der Skala von (Jayanti and Burns, 1998). Ebenso stieg die Aufmerksamkeit gegenüber Verpackungsinformationen (z.B. Health Claims) mit steigender Gesundheitsmotivation (Bornkessel and Bröring, 2013).
Wissen über Inhaltsstoffe als Voraussetzung für die Nutzenwahrnehmung
Unter der Voraussetzung, dass es sich beim Kauf von NEM um eine kognitive Kaufentscheidung handelt, ist für eine erfolgreiche Adoption neuer funktioneller Inhaltsstoffe die Nutzenwahrnehmung durch den Konsumenten von großer Bedeutung (Bröring, 2010). Dabei erscheint das Wissen über Inhaltsstoffe besonders wichtig, da dies eine Voraussetzung für die Nutzenwahrnehmung darstellt. Denn nur wenn dem Konsument der Gesundheitsnutzen eines Inhaltsstoffes bekannt ist, kann er diesen persönlichen Nutzen auch für sich wahrnehmen.
Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, ob für einen einzelnen Inhaltsstoff mit vielen verschiedenen Produktpositionierungen – auf Basis der unterschiedlichen Indikationen – noch ein eindeutiger Gesundheitsnutzen vom Konsumenten wahrgenommen werden kann. Betrachtet man z.B. Vitamin C, für das es 15 verschiedene Claims gibt, stellt sich die Frage, ob Konsumenten aufgrund der Vielfältigkeit überhaupt noch einen klaren, vertrauenswürdigen Produktnutzen wahrnehmen können.
Das Problem der Vertrauenswürdigkeit
Unter anderem wurden die Teilnehmer auch zu ihrer Nutzungshäufigkeit von verschiedenen Informationsquellen, mit denen sie sich zum Thema Ernährung und Gesundheit informieren, befragt. Dabei wurden Gesundheitsexperten wie z.B. Ärzte oder Apotheker am häufigsten genutzt, aber auch die Informationen auf den Verpackungen wiesen eine sehr hohe Nutzungsfrequenz auf. Dies hebt die Bedeutung von Health Claims als eine Möglichkeit der Informationen auf der Verpackung hervor.
Jedoch sind die Konsumenten generell sehr skeptisch gegenüber der Ernährungsindustrie und ihren Verpackungsinformationen. Daher haben sie hohe Anforderungen an die Vertrauenswürdigkeit der Informationsquelle. Eine Basis für Vertrauen in Produktaussagen könnte die neue Health Claim Verordnung bieten. Obwohl die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – European Food Safety Authority) unabhängige Beurteilungen basierend auf der wissenschaftlichen Evidenz abgibt und damit die Vertrauensbasis schafft, sind die deutschen Konsumenten sich dieser europäischen Behörde nicht bewusst. Tiefeninterviews mit 30 deutschen Konsumenten (Erhebungszeitraum von Dez. 2012 bis Jan. 2013) zeigten eine deutliche Skepsis gegenüber Verpackungsinformationen, da dies mit Werbestrategien der Industrie verbunden worden ist. Viele Konsumenten wünschten sich eine unabhängige Institution für Health Claims. Zum Beispiel sagte ein Konsument: „Es wäre gut, wenn es eine unabhängige Quelle gäbe und nicht bezahlte Ärzte“. Dies veranschaulicht das Dilemma, dass es mit der EFSA zwar bereits eine unabhängige Kontrollinstanz gibt, aber die Konsumenten sich dessen nicht bewusst sind.
Schlussfolgerung
Anhand der Analyse des Involvements lässt sich schlussfolgern, dass die Aufmerksamkeit beim Kauf von NEM hoch ist, so dass es grundsätzlichdie Möglichkeit gibt, komplexe Botschaften über Health Claims zu transportieren. Allerdings muss die individuelle Gesundheitsmotivation der Zielgruppe dabei beachtet werden, da jene den stärksten Einfluss auf das Involvement hat. Gleichzeitig ist das Wissen über funktionelle Inhaltsstoffe eine notwendige Bedingung zur Wahrnehmung des Produktnutzens. Somit stellt sich die Frage, inwiefern reine Nährwertaussagen „enthält …“ überhaupt zu einer Nutzenwahrnehmung führen, wenn der Inhaltsstoff nicht bekannt ist. Weiterhin muss für eine erfolgreiche Marktakzeptanz Vertrauen in ein Produkt und die Informationen darüber vorliegen, wobei sich gezeigt hat, dass viele Konsumenten Health Claims nicht trauen. Daher sollten die EFSA sowie die nationalen Behörden mehr Transparenz in den Beurteilungsprozess von Health Claims bringen und somit mehr Vertrauen in Produktaussagen bringen. Erst dann besteht eine Basis, die es erlaubt, dass die wissenschaftliche Evidenz in der Produktkommunikation dargestellt werden kann und ein Produktnutzen als sicher und vertrauenswürdig gilt.
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Autorinnen: Prof. Dr. Stefanie Bröring, Fachgebiet Food Chain Management, Hochschule Osnabrück, Sabine Bornkessel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule Osnabrück
Kontakt: Larissa Gruner | Larissa Gruner auf XING