EU – Kontrollmechanismen für Autos und den Straßenverkehr. Beschränkung der Freiheit oder Zukunft des Fahrens?

16.05.2019Auto & ProduktionStraßenverkehr, EU-Verordnung, Verkehrssicherheit

Statistisch betrachtet sterben auf der Welt heute mehr Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalls, als an HIV. Wie kann das sein? Lange war die Politik ohnmächtig – jetzt liegt eine neue Verordnung der EU auf dem Tisch, die für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgen soll und gleichzeitig noch viel mehr leisten könnte. Was hat es damit auf sich?

Im Jahr 2017 verloren rund 25.300 Menschen in der EU ihr Leben bei Verkehrsunfällen. 3.180 dieser Todesfälle ereigneten sich in Deutschland. Damit sind die Folgen von Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache junger Menschen zwischen fünf und 29 Jahren. Erschreckenderweise lässt sich kaum ein positiver Trend ausmachen. Seit dem Jahr 2000 sank die Todesrate nur minimal von 18,8 Toten je 1000 Menschen auf 18,2 in 2017. Auch in der EU ist trotz einem leichten Rückgang der Todeszahlen das zentrale Ziel außer Reichweite gerückt, nämlich die Zahl der Verkehrstoten im Zeitraum von 2010 bis 2020 zu halbieren.

Die wichtigsten EU-Sicherheitsmechanismen
Elżbieta Bieńkowska, die für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU verantwortliche EU-Kommissarin, stellt fest „Jedes Jahr verlieren auf unseren Straßen 25 000 Menschen ihr Leben. Die meisten dieser Unfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Dies können und müssen wir ändern. Mit den neuen erweiterten Sicherheitsmerkmalen, die wir nun verbindlich einführen, werden wir eine ähnlich große Wirkung erzielen wie seinerzeit mit der Einführung der ersten Sicherheitsgurte“. Die Kommission hat eine Reihe obligatorischer Kontrollmechanismen in Fahrzeugen herausgearbeitet, welche die Straßen in Europa sicherer machen sollen.

Dazu gehören u.a.:

  • Die „Drowsiness and attention detection“, welche es Fahrzeugen ermöglichen soll zu erkennen, ob ein Fahrer fahrtüchtig, oder ob er übermüdet/ alkoholisiert ist. 
  • Ein „Intelligent speed assistant“, der u.a. örtliche Maximalgeschwindigkeiten erkennt und es dem Fahrer unmöglich macht, diese zu überschreiten.
  • Ein „Event Data Recorder“, der die Aufzeichnung von Unfällen möglich machen soll und so zur Klärung von Unfallhergängen beiträgt.
  • Ein „Reversing Camera and Detection System“, das dem Fahrer besseren Überblick über den toten Winkel des Fahrzeuges geben und so Unfällen vorbeugen soll.

Insgesamt werden 15 solcher obligatorischer Sicherheitsmerkmale eingeführt. Ab 2022 wird diese neue Sicherheitstechnik für europäische Fahrzeuge verbindlich vorgeschrieben, um auch Fußgänger und Radfahrer im Straßenverkehr besser zu schützen.

Kontrollsysteme wie diese könnten die Anzahl von Unfällen und folglich auch die Zahl der Todesopfer und Verletzten reduzieren. Sie folgen einer bestimmten Logik – sie identifizieren menschliches Fehlverhalten als Hauptursache für Unfälle im Straßenverkehr. Und natürlich stimmt es, dass im Jahr 2019 der Mensch das letzte Wort hat, wenn es um die Entscheidung der Risikobereitschaft auf der Straße geht. Er entscheidet selbst, wie stark er in Kurven beschleunigt, ebenso wie er selbst am Lenkrad dreht. Besonders für die Deutschen, ein vermeintliches „Volk der Autofahrer“, ist der PKW immer noch mehr als ein reines Fortbewegungsmittel. Die Deutschen fahren gern Auto und nach eigener Aussage auch sehr gut. Außerdem ist das eigene Fahrzeug, gestern wie heute, ein gesellschaftliches Statussymbol. Wie werden die Deutschen reagieren, wenn sie die komplette Kontrolle in der Fahrerkabine verlieren, wenn das Tempolimit sich plötzlich nicht mehr knacken lässt, wenn der Motor ihnen den Start verweigert, weil er sie als nicht fahrtüchtig erachtet?

Die Kommission geht davon aus, dass dank der vorgeschlagenen Maßnahmen im Zeitraum bis 2038 über 25 000 Menschenleben gerettet und mindestens 140 000 schwere Verletzungen vermieden werden können. All dies wird zur Erreichung des langfristigen Ziels der EU beitragen, die Zahl der Toten und Schwerverletzten bis 2050 auf nahezu null bringen („Vision Null“). Doch geht dieses Ziel auf Kosten der individuellen Freiheit? Jener Freiheit, die uns – nicht nur auf der Straße, so wichtig ist?

Kontrollmechanismen im Auto – ein Angriff auf die individuelle Freiheit?
Allzu oft beschneiden sich Freiheit und Sicherheit gegenseitig. Auf den ersten Blick scheint es, das müsse auch zwingend in diesem Fall so sein. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich allerdings Raum für Kompromisse. Laut einer Insa-Umfrage, die Anfang des Jahres durchgeführt wurde, sprechen sich die Hälfte der Befragten für ein generelles Tempolimit von 130 auf den deutschen Straßen aus. Studien legen nah, dass ein Tempolimit von 120 das Risiko für Unfälle deutlich reduziert. Hinzu kommt, dass sehr wahrscheinlich das Stauaufkommen durch ein generelles Tempolimit gesenkt werden könnte. Es sind vor allem sehr stark voneinander abweichende Geschwindigkeiten, die den sogenannten „Stau aus dem Nichts“ auslösen, einen „Abbrems-Domino Effekt“, der zu stundenlangen Verzögerungen im Verkehrsfluss führen kann. Folgt man der Argumentation der Experten, könnte die Zahl solcher Staus deutlich verringert werden – und Sicherheit würde sich an dieser Stelle mit Freiheit nicht beschneiden, sondern sie bedingen.

Der Mensch als Fehlerquelle – Und wie Technik ihm dies vor Augen führt.
Sicherheit ist das eine – technologischer Fortschritt das andere. Es ist nur logisch, dass die ergänzenden Sicherheitsmechanismen auch in der Praxis für mehr Sicherheit sorgen. Doch das kommt zu einem Preis. Der Mensch muss seine vollständige Selbstständigkeit im Tausch für einen Zuwachs an Sicherheit preisgeben. Der Personenverkehr wird wohl nicht der einzige Bereich sein, in dem wir eine solche Entwicklung beobachten, sondern auch überall dort, wo menschliches Versagen zu einer Bedrohung für Leib und Leben führen kann. Überall dort, wo Maschinen zuverlässiger agieren können als der Mensch.

Der Mensch als Fehlerquelle, als Sicherheitsrisiko – ein Gedanke, an den wir uns noch gewöhnen müssen, weil niemand von ihm ausgenommen ist. Jeder kann in der einen Sekunde unaufmerksam sein und in der anderen eine potenzielle Katastrophe auslösen. Es ist kein Wunder, dass die Gesellschaft sich schwertut, sich an den Gedanken einer „fremden“ Steuerung zu gewöhnen, deckt sie doch ihre eigenen Schwächen und Ängste auf. Dennoch ist die Entwicklung hin zu mehr technischer Unterstützung, besonders im Straßenverkehr, unaufhaltbar. In Deutschland wird der demografische Wandel die „Fehleranfälligkeit“ menschlicher Steuerung immer weiter erhöhen. Weltweit steigt die Bevölkerungszahl exponentiell an. Schaut man auf andere Kontinente, ist die Infrastruktur z.T. ausgelastet wie nie. Die technischen Innovationen, die auf Grundlage dieser Herausforderungen bestehen, werden auch den europäischen Markt erreichen – und wären wir nicht naiv, diese Technologien nicht zu nutzen?

Zwei Schritte in die richtige Richtung.
Die Europäische Union hat einen ersten Schritt getan, hin zur Vision Null auf der einen und hin zum vollautomatischen Fahrzeug auf der anderen Seite. Autonomes Fahren liegt in der Zukunft. Doch gar nicht so sehr technisch, wie psychisch. Einige Hersteller haben bereits fast fertige Sensorik für autonomes Fahren für die Stufen vier und fünf in ihren Modellen verbaut. Autos dieser Entwicklungsstufe könnten theoretisch auch ganz ohne Insassen fahren. Elon Musk plant, bereits im Jahr 2020 eine Million vollautomatische „Robo-Taxis“ auf den Markt zu bringen. Es sind diese und zahlreiche weitere Ankündigungen großer transnationaler Unternehmen, die autonomes Fahren in scheinbar greifbare Reichweite rücken. Doch eines bleibt fast sicher; die Grenzen im Kopf sind vorhanden. Es wird viel Zeit und Mühen kosten, das Vertrauen in den Köpfen der Menschen zu schaffen. Egal wie die Fakten liegen und ob computergesteuerte Autos nun sicherer sind oder nicht – der Mensch bleibt am liebsten bei dem Altbekannten: „Never change a running system“.

Womöglich können die Kontrollmechanismen der EU ernsthaft an dieser Mentalität rütteln und die Fahrer langsam und schonend auf die Übernahme der Technik gewöhnen. Der Stolz der Menschen, ihre Fehlbarkeit nicht zuzugeben, darf der Verkehrssicherheit nicht im Wege stehen. Die EU richtet die Aufmerksamkeit gleichsam auf die 25.000 jährlichen Verkehrstoten ebenso wie auf die Innovationen, die genau diese Leben auf dem Weg zur Vision Null retten könnten. Der Erfolg der 15 Kontrollmechanismen wäre also nicht nur ein Erfolg für die Statistik, sondern würde Sicherheit schaffen und sensibilisieren, für eine Zukunft, die durch Technik dem Menschen seine Fehlbarkeit nicht nur vor Augen führt, sondern sie ausgleicht – und gut daran tut.


Quellen: