Herr Dr. Martin, als Vorsitzender des Stammdatenmanagement-Forums blicken Sie auf mindestens 10 Jahre Entwicklungen rund um Stammdaten zurück. Was hat das Thema am Leben gehalten, warum ist es heute wichtiger denn je?
Lassen Sie mich provokativ beginnen: Weil immer noch viele Unternehmen Probleme im Stammdatenmanagement haben. Viele Unternehmen bringen immer noch nicht die Kraft auf, ihr Stammdatenmanagement ein für alle Male zu bereinigen, sauber neu aufzubauen und konsequent zu managen. Hier mangelt es zum Teil auch am Kostenbewusstsein, da in vielen Unternehmen Prozesskosten gar nicht bekannt sind. Daher fällt es vielen immer noch schwer, die Kosten mangelhafter Qualität in den Stammdaten zu bewerten. Schlechte Qualität von Stammdaten führt zu erhöhten Prozesskosten, denn sie ist eine wesentliche Ursache mangelhaft ablaufender Prozesse, vor allem in der Supply Chain, aber auch im Rechnungswesen und im Marketing. Da werden Teile falsch geliefert, so dass es zu Produktionsausfällen kommt. Da werden Lieferungen an falsche Adressen geschickt, zum Teil auch die falschen nicht so bestellten Produkte. Da kommt es zu Stornos und Retouren, und schließlich werden Marketing-Kampagnen teuer, wenn man die falschen Kunden anspricht und die eigentliche Zielgruppe gar nicht bedient. Nicht vergessen sollte man auch die entstehenden Imageschäden, die beispielsweise auch durch Doubletten im Kunden-/Interessentenstamm entstehen. Letztere sind da allerdings schon schwieriger zu messen. Wenn aber die Umsätze steigen und die Margen stimmen, dann spielt das in vielen Unternehmen oft gar keine Rolle. Ich habe häufig genug gesehen, wie Änderungen im Markt und Druck auf die Erträge auch Druck auf ein professionelles Stammdatenmanagement machen. Dann erinnert man sich daran, dass hier noch viel Geld vor allem gespart, aber auch verdient werden kann, wenn die Qualität der Stammdatenstimmt. Es gilt: Kein Prozess ohne Daten!
Heute nimmt dieser Druck im Zuge der Digitalisierung der Welt weiter zu. In der Tat wird Stammdatenmanagement jetzt noch wichtiger denn je. Aber auf diesen Punkt kommen wir ja noch zu sprechen.
Wenn ich Sie konkret nach den 5 Top-Trends im Stammdatenmanagement frage, welche Punkte würden Sie nennen?
Als erstes ist da der Total-Quality-Management-Ansatz im Stammdatenmanagement zu nennen. „TQM ist … ein Ansatz der Unternehmensführung, mit dem eine dauerhafte Optimierung von Prozessen und Verfahren erreicht werden soll.“* Im Stammdatenmanagement beginnt das mit einem zentralen Register, in dem alle Stammdaten über alle Kanäle, Organisationsbereiche und Applikationen hinweg gespeichert und kombiniert werden. Dieses zentrale Register dient als „Geschäfts-Terminologie“ und soll den sogenannten „Golden Record“ liefern, also zuverlässige, korrekte, qualitätsgesicherte und verfügbare Stammdaten. Dazu werden Stammdaten aus den unterschiedlichen Datenquellen extrahiert und konsolidiert. Data Profiling gibt eine Analyse der Daten und deckt Probleme und Inkonsistenz auf. Data Cleansing und Matching stellen die Datenqualität sicher. Der Golden Record weiß auch, in welchen Stammdatensätzen in den verschiedenen Datenquellen Attribute aus dem Golden Record verwendet werden. So wird die Konsistenz der Kundenstammdaten sichergestellt: Bei einer Änderung eines Attributs in einer beliebigen Datenquelle wird diese Änderung mit allen anderen betroffenen Quellen synchronisiert. Datensilos gehören somit der Vergangenheit an.
Als nächstes ist der Einsatz von Kollaborationswerkzeugen im Social-Media-Stil zu nennen, denn Stammdatenmanagement ist eine Aufgabe, die nur im Team zu bewältigen ist. Da helfen Kollaborationswerkzeuge wie gemeinsame Dokumentenbearbeitung durch Wikis, die Möglichkeiten Annotationen und Kommentare in Dokumenten und Abläufen anzubringen, kollaborative Kommunikationswerkzeuge und Projektmanagementwerkzeuge erheblich. Erfreulicherweise unterstützen führende Anbieter von Stammdatenmanagement-Plattformen diese Anforderungen hinreichend gut. Verbesserungsbedarf gibt es natürlich immer.
Als dritten Trend – die Reihenfolge ist keine Bewertung der Wichtigkeit – ist Multi-Domän-MDM zu nennen: Bisher waren sowohl Werkzeuge wie auch Organisationseinheiten relativ strikt getrennt vor allem in die beiden großen Domänen Kundenstammdaten- und Produktstammdaten-Management, da man unterschiedliche Anforderungen (beispielsweise an die Doublettenbereinigung) und unterschiedliche Prioritäten in den meisten Unternehmen hatte. Das hat sich geändert, denn es hat sich gezeigt, dass man durch einen gesamtheitlichen Ansatz im Stammdatenmanagement deutlich mehr erreichen kann und einen in der Regel höheren RoI erzielen kann. Dazu kommt, dass sich durch die Vielfalt heutiger Datenquellen und auch durch die Menge an Daten, die heute in einem Unternehmen anfällt, die Anforderungen des Managens von Stammdaten in unterschiedlichen Domänen angeglichen haben. Auch hier folgen die führenden Anbieter diesem Trend und bieten in der Regel Multi-Domänen-Stammdatenmanagement-Plattformen an.
Als vierten Trend sehe ich einen Technologie-getriebenen Trend: Der Einsatz von NoSQL-Technologien für Repositorien und Konfigurationsaufgaben im Stammdatenmanagement und zum Managen großer Mengen von Produktabbildungen vor allem auch im Produktinformationsmanagement. Hier bieten NoSQL-Datenbanken dann Abhilfe, wenn Datenstrukturen immer komplexer werden (Beispiel rekursive Stücklisten) oder Datenmengen immer grösser (Beispiel: Fotos, animierte Fotos und Videos von Produkten im Webshop). Wenn hier relationale Datenbanken an ihre Grenzen stoßen, weil die Leistung nicht mehr für akzeptable Antwortzeiten ausreicht oder der Programmier- und Pflegeaufwand komplexer Datenmanagement-Aufgaben zu hoch wird, bzw. gewisse gewünschte und erforderliche Funktionalität nicht mehr abbildbar ist. Hierzu hatten wir bereits im Stammdatenmanagement-Forum im letzten Jahr einen Beitrag aus der Fahrzeugproduktion von BMW gesehen.
Schließlich sind die Anforderungen von Big Data an das Stammdatenmanagement zu nennen. Das große Problem besteht hier darin, dass die vielen Datenquellen, durch die man neue Einsichten und Erkenntnisse ziehen will und soll, nicht über Stammdaten verfügen. Die muss man quasi neu erfinden. Hierzu dient beispielsweise Identity Resolution. Ein Einsatzgebiet ist hier beispielsweise das Erkennen von Kunden und Nicht-Kunden, die auf ihren Webseiten surfen oder sich im Webshop informieren wollen. Das schlägt nun auch gleich den Bogen zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf das Stammdatenmanagement.
Überall sprechen wir von Digitalisierung, Digitaler Transformation und Disruption. Wie sehen Sie die Rolle von Stammdaten Management in diesem Kontext?
Hier sage ich ebenfalls ganz provokativ: Wer jetzt in der sich digitalisierenden Welt seine Stammdaten nicht in Ordnung hat, wird eine Disruption seines Geschäftes sehen, denn wie schon gesagt: Stammdaten sind die Grundlage für die Geschäftsprozesse und deren reibungslose Abläufe. Daher sollten all die, die bisher das Managen von Stammdaten als eine Aufgabe unter vielen anderen mit entsprechend niedriger Priorität gesehen haben, schleunigst umdenken. Es ist für solche Unternehmen höchste Zeit, ein professionelles Stammdatenmanagement jetzt anzugehen und aufzusetzen. Denn die Digitalisierung bedeutet vor allem auch Automation und Standardisierung aller Unternehmensbereiche. Das wird ohne ein professionelles Stammdatendatenmanagement zumindest sehr teuer, vielleicht sogar zu teuer!
*Zitat www.gruenderszene.de
Autor: Dr. Wolfgang Martin, S.A.R.L. Martin, www.wolfgang-martin-team.net und Vorsitzender des Stammdaten Management Forums
Kontakt: Frederic Bleck, Senior Konferenz Manager EUROFORUM | XING
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